Die Endlichkeit des Lichts
Maniküre
hatte ihr ein Tarotspiel vorgelegt, und sie zog den Gehängten, Odin, den
arroganten jungen König, der neun Nächte lang verwundet von der Weltenesche
hing. Weltenesche, ein Wort, das sie Marina nicht zugetraut hatte. Mem, sagte
Marina, das ist der hebräische Buchstabe dazu, und Mem bedeutet Meere. Damit
kann ich nichts anfangen, sagte Verna und betrachtete Hugin und Munin, die
beiden Raben, die Odin Denken und Gedächtnis brachten. Damit will ich nichts
anfangen. Manchmal bedeutet die Karte auch, sagte Marina, daß man etwas
aufgeben muß. Was denn noch alles? fragte Verna. Als sie mit neuen, glatten
Fingernägeln auf die Straße trat, regnete es wieder. In diesem nassen Sommer
nahm Odin im dunklen Brunnen von Mimir die Buchstaben auf. Es sollte sehr
schmerzhaft gewesen sein. Der Arme, so viel Leid, und dann eine Figur der
Weltliteratur.
»Und jetzt«, sagte Alakar Macody auf
dem Bildschirm, »lese ich ein Gedicht für eine gute Freundin.«
Irgendwo saß Vera Albert in einem
Sessel und lachte.
»An diesem Ort, sagst du, hat sich der
Tod getötet.«
Es war kein Gedicht, das sie kannte.
Verna drehte ihm den Rücken zu und sah in den Computerbildschirm. Es war sein
Gedicht.
»Der Mohn dort ist ausgeblutet«, sagte
Alakar, »mit seinem Saft haben sich die Menschen hierzulande früh die Finger
gefärbt.«
Ich werde schreiben, dachte sie, eine
Geschichte über Isaak Stern, den meine Mutter nicht mochte. Mehr war es doch
nicht.
»Die rasenden Träume solcher Nächte«,
sagte Alakar Macody, »hat er verschuldet.«
Einmal, als ich ein Mädchen war, wollte
ich Schriftstellerin werden. Die ganze Welt in einem Kopf, sagte Alice, das ist
wirklich harte Arbeit.
»Ich habe an Dresden gedacht«, sagte
Alakar Macody, »und Dresden ist mir so fern wie Memnonia gewesen. Neben mir hat
einer ein Lachen gelacht, an dem sich ein Streichholz entzündet hat in meinen
Haaren.«
Ein paarmal hatte Verna schon Vera
Alberts Nummer in der Hand. Aber es hatte keinen Sinn. Niemand hat mir eine
Brust amputiert, und weil das so ist, werde ich einmal im Leben dankbar sein.
»So war Licht im Dunkel«, sagte Alakar
Macody. Aufrecht saß er auf dem Stuhl und schaute in die Kamera. Das konnte sie
nicht sehen, nur fühlen.
»Allein in diesen Jahren zu stehen. Du
bist mein Liebster, sage ich, die Torbogen wächsern und stumm vor dem Morgen.«
»Nun sei doch still«, sagte Verna,
»gleich kann ich es nicht mehr aushalten.« Ein Spuk geisterte durch ihre
Wohnung, aber unter ihren Papieren fand sie die Fernbedienung. Ich werde
Seminare geben, Moderationsseminare, und ich werde ihnen beibringen, wie man
Augen fängt und Stimmen verschleudert.
»Ach, all die Farben, sagst du. Ach,
all der Schnee.«
Sie drückte den falschen Knopf, bis
Alakar Macodys Gesicht alle Farbe verlor.
»Ich habe an Dresden gedacht, und
Dresden ist mir so fern wie Memnonia gewesen.«
Der Bildschirm wurde dunkel, endlich
war Ruhe, nur der Rechner rauschte. Buchstaben, die herrliche Hälfte der Welt.
Einst lebte ein Mann, der verkaufte den Menschen Träume.
»Haben Sie Vera Albert die Wahrheit
gesagt? Haben Sie ihr gesagt, was Sie mir gesagt haben?«
»Nein«, sagte er, »natürlich nicht,
nein.«
»Hat sie Sie nicht gefragt? Oder haben
Sie gelogen?«
»Es wird nichts. Es wird nichts mit
uns, Verna.«
»Ich habe vergessen«, sagte sie, »Ihnen
zu erzählen, daß ich mit Manasse im Bett war. Zuletzt an dem Abend, als wir vor
meiner Haustür standen. Es war sehr traurig und auch schön.«
»Sie müssen mir nichts erklären. Ich
will das nicht.«
»Ich habe an niemanden gedacht, an Sie
nicht und auch nicht an Izzy Stern.«
»Sexuell interessieren Sie mich nicht,
Verna.«
»Was glauben Sie wohl? Ich habe das
nicht nötig. Ich war mit hundert Männern im Bett.«
»Und ich schlafe nicht mit Frauen, die
mich sexuell mißbrauchen.«
»Nun glauben Sie’s mir schon, das kann
ich an jeder Straßenecke haben.«
»Kann es sein, daß Frauen Männer dazu
treiben, Patriarchen zu sein? Wollen Sie mich am Kopf des Tisches sitzen sehen
und mit der Peitsche knallen hören? Glauben Sie, ich bin zu nett gewesen? Ist
Härte das, was Sie wollen? Damit das Leben wieder seine Ordnung hat?«
»Weiß ich nicht, ich bin keine Frau.«
»Was sind Sie denn?«
»Ein Monster.«
»Nur weil dieser Stern ein Hampelmann
war?«
»Er war kein Hampelmann. Er hat das
Mögliche getan, er ist daran erstickt. Er hat Wunschknochen gegessen. Er war
wahrscheinlich wie mein richtiger
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