Die Endlichkeit des Lichts
ihre analytische Technik zu verbessern.
Vor einer Telefonzelle erwog Alakar,
eines der halbsexuellen, zerstreuten Gespräche mit Doris Knöchel zu führen, die
in ihrer Personalabteilung nach wie vor großem Erfolgsdruck und Existenzangst
ausgesetzt war. Existenzangst, dozierte seine Mutter, führt zu
Adrenalinausschüttung, und Adrenalinausschüttung führt zu vorübergehend
gesteigerter sexueller Erregbarkeit. Von Antonios ersten nächtlichen
Samenergüssen hatte sie sich deshalb nicht beunruhigen lassen. Wut, Adrenalin,
Sex, sie dachte, daß er nur ärgerlich auf seinen dominanten Vater wäre und
Konkurrenzhormone produzierte. Dabei hieß des Rätsels Lösung Dorothea, die in
der Klasse zwei Bänke hinter ihm saß, ein dürres, grübchenbehaftetes Geschöpf,
das Jahrzehnte später mit gerichtetem Gebiß und klassischer Nase in einer
Personalabteilung sitzen würde. Eine zukünftige Doris Knöchel.
Erheitert vom Gedanken, bei Doris eine
vorübergehend gesteigerte Adrenalinausschüttung zu provozieren, lachte Alakar,
und zwischen den Häusern stieg das Gelächter auf wie ein Flugdrachen. Ob auch
Erheiterung gesteigerte sexuelle Erregbarkeit hervorrufen mochte? Einen Versuch
war es wert. Seine Uhr zeigte drei. Noch viereinhalb Stunden bis Brainonia. Der Wind kam von Westen, und aus dem Westen näherte sich, laut Buch der
Wandlungen, das glückverheißende Vorzeichen. Das mußte nichts heißen, weil das
Glück wahlweise auch aus dem Osten, dem Süden oder Norden kam. Die Asiaten
waren da flexibel. Vor ihm stand eine Telefonzelle, verlassen und nutzlos.
Doris Knöchel, ihre kurzen Schreie, wenn sie mit ihm schlief. Peinlich berührt
merkte Alakar, daß ihm Tränen in die Augen traten.
»Meine Güte«, sagte er laut, »was soll
denn das?«
Das junge Mädchen, das auf unglaublich
hohen Plateauschuhen vorbeilief, taumelte gegen die Telefonzelle. Mit weißen
Fingerknöcheln hielt es sich fest, und Alakar fühlte sich noch einmal wie
Batman angesichts der kleinen Vögel. Aber er heftete seinen Blick auf die
Sandalen, die sich immer noch wie Schneeschuhe anfühlten. Als Kinder waren
wir zu Gast beim Erzherzog, der mit mir Rodeln ging.
Das wüste Land, er kannte es komplett auswendig, keins
seiner besten Werke, auch wenn alle es dafür hielten. Alakar glaubte mit
geradezu religiöser Besessenheit an Ash-Wednesday, weil Ash-Wednesday seiner Mutter immer Anlaß für Radau bot. Wie Flutwellen überrollten ihn ihre
angelesenen Deutungen. Ash-Wednesday, der Ausdruck des Konflikts
vorsprachlicher Säuglinge in der Sprachbildungsphase. Hier findet, sagte
sie, doch nur der Austausch des Bewußten gegen das Unbewußte statt. Eindeutig,
kann klarer gar nicht sein. Da-da, gu-gu, Kindersprache. Was? Antonio war
sechzehn und hatte fast geschrien. Hör doch zu: Und das Licht schien in der
Finsternis, und gegen das Wort rollt noch rastlose Welt! Hörst du das?
Seine Mutter nickte. Und was hörst du, wenn du das hörst? Seine Mutter zuckte
die Schultern. Säugling, wiederholte sie, Sprachbildungsphase. Als er den
Impuls spürte, den marmornen Aschenbecher vom Tisch zu nehmen und sie damit zu
erschlagen, lächelte sie nur. Honig tröpfelte von ihrem Mund auf seine Augen.
Draußen, im Garten, schob sein Vater mit dem Rechen frisch gemähtes Gras zu
unbedeutenden Haufen zusammen. Plötzlich sah Antonio ihren Mund in
Großaufnahme, jede Falte eine Verhöhnung, das Stahlseil aus Ober- und
Unterlippe, das die Quelle ihrer Bosheiten verbarrikadierte. Und, sagte sie
freundlich, und weiter, Antonio? Der Aschenbecher war zinnoberrot und heiß, ihr
Mund dagegen ausgeblutet. Du zickige..., sagte er. Dann fiel ihm nichts mehr
ein. Sie lächelte wieder. Du ignorante, sagte er, zickige, analytische
Literaturnutzungsprostituierte! Er wußte selbst nicht, woher das Wort kam. Ich
finde es sehr interessant, Antonio, sagte das Stahlseil, daß du sowohl deine
Lieblingssteckenpferde als auch mich aufs anschaulichste zu verknüpfen suchst.
Literaturnutzungsprostituierte — Bücher- und Sex. Muß ich dir sagen, was ein
Fachmann daraus schließen könnte? Und ausgerechnet heute!
Es war ihr Geburtstag, sie wurde
fünfzig, und erst viel später fiel ihm ein, daß sie wahrscheinlich in den
Wechseljahren gewesen war. Aber er mußte es gespürt haben, denn er machte einen
Tee, stellte das Tablett auf den zinnoberroten Aschenbecher und las ihr zur
Versöhnung Rilke vor, weil Rilke sie stets besänftigte. Der Tod ist groß. Ja, sehr groß. Wir sind die Seinen,
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