Die Endlichkeit des Lichts
Verna, sagte Mutter. Auch zu dem Mann, der
drei Jahre nach Alices Tod der Stiefvater eines lebendigen und eines toten
Kindes wurde. Meine Alice, sagte sie nie mehr, meine Alice wurde unterschlagen.
Der Mann war rundlich und in gewisser Weise violett, wegen der Äderchen, die
sich über Nase und Wangenrücken zogen und dunkler wurden, wenn er die
Staubsaugerdüsen auf das Saugrohr schraubte, keuchend und konzentriert. Bei den
ersten Besuchen, als er bloß ein nichtssagender Staubsaugervertreter war.
Später brachte er ihrer Mutter, die sonst nachmittags nur Cello spielte, ein
Buch von Winnicott mit, und sie sagte: Ah, dieser Mann hat wirklich Niveau!
Sie offenbarte sich ihm wie einem
Beichtvater. Ich habe ein Kind mit zuviel Phantasie geboren, Vater, das den
ganzen Tag über Klorollenigelchen bastelt. Ich habe gesündigt, Vater. Kein
Problem, Tochter, kaufe einfach dieses düsenbetriebene, dreistrahlige Gerät
hier. Es besitzt einen Ansaugstutzen aus Vollmetall und einen pollenschützenden
Luftfilter. Wer hätte dem romantischen Ablaß widerstehen können, oder war es
ein Aderlaß gewesen? Zwar fand die Verwicklung zwischen dem Vertreter, ihrer
Mutter und ihr nur Monate nach dem Stiefelknecht statt, aber Alices Tod mit
seinen brandigen Gerüchen schien bereits vergessen. Zur Rechten einer
unregelmäßig glänzenden Halbglatze sitzend, trug ihre Mutter ihr Leben vor. Von
Anfang an redete sie sich leer, vergaß Verna, vergaß Alice, vielleicht hörte
der Mann, der Leo hieß, nur deshalb mit dem Gesichtsausdruck eines Jagdhundes
zu, in der Hand eine Meißener Kaffeetasse.
»Warum haben Sie denn in der Sendung
weinen müssen?« fragte Alakar Macody und senkte endlich den Blick.
»Was?« fragte Verna. »Was habe ich?«
»Weinen müssen!« wiederholte er
sachlich. Es ekelte sie an, wie er dabei den Mund verzog, Izzy, ästhetisch
perfekt mit seiner gebogenen Nase. Wehren Sie sich, sagte Karla, Schläge
spiegeln immer nur Ihr eigenes Bedürfnis, sich schlagen zu lassen. Greifen Sie
doch selbst mal an!
»Warum haben Sie mir die Show
verdorben?« sagte Verna liebevoll. Alakar hatte nicht die geringste Ähnlichkeit
mit Izzy, wenn man genau hinsah, und sie sah genau hin, o ja, das tat sie.
Wahrscheinlich drückte er einfach die richtigen Knöpfe. Frauen stehen auf
Faschisten, sagte Sylvia Plath, und Anne Sexton wandte mit einer
Schwanenbewegung den Kopf ab.
»Unglückseligerweise«, sagte Alakar,
»neige ich weniger dazu, mich im Griff zu haben als Sie. Unglückseligerweise
gab es einen Punkt in meinem Leben, an dem ich erkannt habe, daß das Wissen um
die Wahrheit die einzige Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ist. Und
unglückseligerweise habe ich meine Schlüsse daraus gezogen!«
»Donnerwetter«, sagte Verna, »ein
richtiger Philosoph, das ist ja mal was anderes!« Mit einem Fingerschnippen
orderte sie noch einen Liter Altavilla, würzig, scharfkantig. Natürlich finde
ich ihn attraktiv, sagte sie zu Karla, so attraktiv wie den Vertreter meiner
Mutter. Ein Gesicht, ein Hauch von Konversation und dahinter fünfzig
Staubsauger. »Wenn Sie sich als Pilzsammler unbedingt vom Tier unterscheiden
wollen«, sagte sie und achtete darauf, deutlich zu akzentuieren, »dann würde
mich interessieren, was Sie beispielsweise von Sex halten.«
Wie er nach Luft schnappte, gefiel ihr,
ein Nichts, nicht anders als Vera Albert, die er gehauen und gestochen hatte.
Nun erging Ordnung vor Recht, und jemand organisierte seine maßlose
Selbsteinschätzung neu.
»Oh!« sagte er nach geraumer Weile,
»Sex...«
»Sex, genau!«
»Wissen Sie«, sagte er, »mit Sex halte
ich es wie die Lektoren. Ich lebe Sex nur in der Literatur.«
»Nabokov«, sagte Verna, »ich wette,
Nabokov. Sie sind der Typ, der Lolita liest. Sie mögen kleine Mädchen.
Alle Männer, die kleine Pilze lieben, lieben auch kleine Mädchen!«
»Verna, ich glaube, Sie sind ein
bißchen betrunken!«
»Bin ich nicht«, sagte Verna. Wenn er
wenigstens behauptet hätte, daß sie ein bißchen zu viel über Stiefelknechte
nachdächte oder über die lange, schwerelose Unruhe der Seelen halbwüchsiger
Mädchen nach dem Tod. Seit ihrer Pubertät glaubte sie fest daran, daß Alice
irgendwo darauf wartete, all das nachzuholen, was sie ihr voraushatte.
Versäumtes, nicht Gelebtes. Probehalber warf sie einen Blick zur Decke, wo ihre
Schwester tatsächlich schwamm und neiderfüllt jeden einzelnen Schritt
beobachtete, den Verna tat. Alice unter falschem Stuck, eine
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