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Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Riedel
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Hand klammerte sich die liegende Vera immer noch an seinem Fuß fest,
während ihre schöne porzellanfarbene Schwester schwieg.
    »Es ist eine Puppe!.« sagte jemand. Es
ist eine Puppe. Wußte er, wer von beiden die Puppe war? Ein Tropfen Spucke
landete auf Alakars sorgfältig geputzten Schuhen.
    »Ja«, sagte er, »was sonst?«
    Vera Albert zu seinen Füßen wartete
darauf, daß er weiterredete. »Besonders die Haare«, sagte er hilflos, »die
haben Sie wirklich wunderbar hingekriegt.«
    »Nun«, flüsterte sie, »ich frisiere
Verna ja auch jeden Abend. Ich schalte Brainonia an, und Verna hat ihren
Kopf...«
    Plötzlich sprang sie auf die Füße und
zerrte die Puppe erstaunlich gewandt neben sich aufs Linoleum. Blondes Haar
fiel über ihre Knie. »So... so hat Verna den Kopf dann auf meinem Schoß. Und
dann kämme ich sie. Bis zu einer Stunde. Das ist gut für ihr Haar. Echthaar,
übrigens!« Finger wie rote Bratwürste strähnten die Perücke und machten schabende
Geräusche.
    »Wissen Sie, Al-kalar, und wenn ich
Zeit habe, nähe ich Vernas Kostüme nach. Aber meistens habe ich keine. Die
Elementarteilchen. Die fressen mich noch auf.«
    Rastlose Leere überlagerte ihre Stimme,
und Alakar hörte sich »Na, na!« sagen, wie man es zu kleinen Hunden sagt, zu
speienden Babys, »na, na, na!«
    Er hockte sich auf die Fersen und
tastete nach Veras Hand. Ohne Vorwarnung ließ sie sich nach hinten fallen, ihr
Kopf schlug gegen die Wand, und über ihren Beinen lag immer noch Verna
Albrechts Puppenschwester. Das gefiel ihm nicht, etwas war falsch daran. Also
schob er erst die Puppe beiseite und dann den Arm unter Veras Kopf, und sein
Arm unter ihrem Kopf wurde steif, während er sie festhielt. Plötzlich liefen
ihm Tränen in den Ärmel, und sein Ärmel war klamm und naß und salzig.
     
    Die Tasse knackte, als Verna den
dampfenden Tee eingoß. Sie kannte den Zustand und fühlte sich darin wohl.
Allein war sie immer gewesen: als Kavo ihr die Kündigung verabreichte wie das
Abendmahl, als sie am Springbrunnen auf Manasse saß, während Wind einen
schmutzigen Sprühnebel aus der Fontäne gegen ihre Gesichtshaut trieb; die
seltenen Male, wenn Izzy sie wenigstens sein körperliches Ich berühren ließ und
sich schläfrig und desinteressiert über ihr hin- und hergeschoben hatte. Sie
konnte eben nur in Gesellschaft allein sein, und wenn sie wirklich allein war,
war sie in Gedanken immer bei anderen.
    Als sie durchnäßt nach Hause gekommen
war, rief sie Karla an, die endlich eine Borderline-Störung diagnostizierte,
ihre Stimme klang dabei so grimmig, daß Verna wußte, es war das Todesurteil.
Alles, was sie anschließend beim Tee über Borderline las, hatte sie bestätigt.
Andererseits mußte Karlas Urteil nicht bedeuten, daß sie irre war oder
gestörter als andere in ihrer Lage. In welcher Lage? fragte Karla aufsässig,
Ihre Lage ist doch Lebensprogramm. Deshalb versuchen Sie’s ja so inständig mit
dem Schreiben. Zum Ausgleich, als schiere Kompensation.
    Der Mensch haßt, was er ist! sagte Izzy
traumverloren von der Kassette, die er einmal für sie aufgenommen hatte. Verna
trank ihren Tee in kleinen Schlucken und hörte ihm zu. Er wenigstens hatte sie
erkannt, ihre Essenz gefühlt und einfach ausgesprochen. Du, sagte er, das alles
bist du nicht, Verna. Seit Alice und dem Stiefelknecht kannst du dich einfach
nicht mehr ertragen. Sein Tonfall, lächelnd, kühn, ein Schuh, den man an einer
Fußmatte abstreift. Sie spulte die Kassette zurück, wieder und wieder, und
erinnerte sich, wie sie ihn fassungslos angesehen hatte, als er seine Stimme
für sie aufnahm.
    Das Unteilbare zu teilen bedeutet, sich
irgendwann trennen zu müssen, wollte sie sagen, aber nie konnte sie sagen, was
sie dachte, wenn er in der Nähe war. Sie stammelte höchstens unpassende Sätze,
so ausgefüllt war sie vom Entzücken, Izzy Sterns illegale ungeliebte Frau zu
sein.
    »Der Mensch«, sagte Verna in der
Umkehrung seiner grandiosen Erkenntnisse, »liebt das, was er nicht ist.«
    Schade, daß er sie nicht mehr hören
konnte, schade, daß ein einfacher Hühnerknochen ihren fruchtbaren Austausch für
immer unterbunden hatte. Neues Teewasser kochte, der Kessel pfiff, ein
metallischer Ton, der bis ins Wohnzimmer drang und Verna in ihrem Schmerz
störte. Seit sie die Kassette hörte, kam sie sich wie eine russische Puppe vor.
Verna, darin Izzy, darin Alice, ein wahnwitziges, mikroskopisch kleines
Geschwür in ihrer und seiner tiefsten Tiefe. Borderline, von

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