Die Endlichkeit des Lichts
jeder Augenblick bringt eine neue und erschütternde Erkenntnis. Ploppend wie ein Korken schoß die Einsicht an die Oberfläche seines
Bewußtseins. Eliot hatte es vorausgesehen, er hatte alles vorausgesehen, ein
alter schwarzer Seher. Den weißen Rausch der Entwicklung hatte er im Blut
gehabt, die kosmischen Mosaike der neuen Physik. Alles ist richtig, sagten sie,
alles ist falsch. Eliot hatte es beschrieben, sogar in ihren Worten.
»Verna«, sagte er, »Verna, es ist nicht
schlimm, ich muß mich sogar bei Ihnen bedanken. Was Sie getan haben, ist wichtig.
Warten Sie, ich gebe Ihnen ein Beispiel: Natürlich existieren eine Menge
Systeme, in denen sich zwei Sterne umeinander bewegen und sich gegenseitig mit
ihrer Schwerkraft anziehen. Aber es gibt auch einige, in denen man nur einen
der Sterne sehen kann, wie er um seinen unsichtbaren Begleiter kreist. Aus
seiner Bahn können wir dann den unsichtbaren Begleiter berechnen. Seine Größe,
seine Bedeutung. Die Sache mit Ihrer Hand und meinem Bein, es ist... der
schönste Beweis!«
Die flachen, düsteren Scheiben ihrer
Augen starrten ihn
an.
»Das ist doch der eigentliche Irrsinn
der alten Physik«, sagte er, »der Himmel, wie er sich darstellt, all die
Parabeln, die Dichtung. Sie haben sich um Kopf und Kragen gerechnet, aber nicht
erkannt, daß es immer Poesie war. Aber nur durch die Poesie kann es groß und
wahr werden. So groß und wahr, wie es ist.«
Verna blickte ihm in die Augen, als
würde er mit einem Hammer seine Prothese beklopfen.
»Das Aberwitzige ist«, sagte er, »daß
die alten Männer überleben. Ausgerechnet die Physiker überleben, weil sie glauben. An sich selbst, an die Meßbarkeit, an Kontrolle. Die Gläubigen drehen nicht
durch. Verrückt werden die Wissenden. Das ist die Maßlosigkeit. Verrückt werden
am Ende die Dichter!«
»Ich bin kein Freilandversuch«, sagte
Verna. Er hörte das Echo einer Stimme: Ich habe dein Bein gestreichelt, dein
Bein, das kein Bein mehr ist.
»Es war aber eine wirkliche Berührung«,
sagte er tröstend, »an einem unwirklichen Bein! Eigentlich großartig, nicht
wahr?«
»Sie sind wahnsinnig«, sagte Verna so
entsetzt, daß ihr das Gesicht von den Knochen zu fallen schien.
»Es tut mir so leid«, sagte Alakar,
»für Sie, Verna, für mich eigentlich nicht.«
Little Green Man, dachte er, aber ihm
fehlten die Begriffe, es zu erklären. In dem Pulsar hatte doch ein kleiner
grüner Mann gesteckt, ein Mann, der wie sein Bein war, existent und nicht
existent, ein Ding, das sich nicht messen lassen wollte. Weil es in der
Doktorandin gelebt hatte und in Batmans fliegenden Gedanken, im Raum, den nie
ein Mensch betreten hatte. Die Singularität, sagte Alwin, wir berechnen
inzwischen die Grenze, an der unsere Voraussagen enden. Die Gnade des Sinns, sagte Eliot, ein weißes Licht, still und bewegt. Man konnte es nie
sehen. Man konnte es nur fühlen.
»Das andere Bein!« sagte Verna Albrecht
fassungslos, bevor sie zum zweiten Mal an diesem Abend zu weinen begann.
Wolken standen wie Butterflöckchen am
Himmel, als Verna am nächsten Tag das Papier aus ihrer Tasche zog, das Kavo ihr
feierlich überreicht hatte. Ein undeutlicher weißer Fleck in seiner Hand,
bedeckt mit schwärzlichen Schriftzeichen, die sie nicht entziffern konnte.
»Ach du Ärmste!« sagte Manasse
mitfühlend, nachdem Kavo sie mit ihm und dem Papier allein gelassen hatte, und
da erst hatte sie begriffen, daß sie gekündigt war.
»Hysterie«, sagte Kavo, »ist etwas, was
ich in Romanen respektiere, aber bei Tele-Fun nicht ertragen kann. Und Hysterie
allein würde reichen, aber Weinen...!«
Sie fühlte sich wie eine Romanfigur.
Sie wurde ein Roman, wanderte durch den Roman, las sich, beendete sich.
Schweigend packte sie ihre Mappe und verließ den Ficus, Manasse und Annett, die
auf einmal neben Manasse stand, mit ihrer armen halben Brust, Jack in the box,
ängstliche Augen. Draußen wanderte sie um den Block, stundenlang, hielt das
Papier in der Jackentasche fest und kam zu dem Schluß, daß sie nichts fühlte.
Es gab auch keinen Grund dafür. Immer wieder kam sie am Tele-Fun-Gebäude
vorbei, lief im Kreis, bis sie vor dem Springbrunnen stand, wo Annett und sie
manchmal frühstückten. Seerosen aus Sandstein blühten an der Brüstung, und
Verna setzte sich auf die geschmiedete Bank, hörte das Wasser und das, was
unter dem Wasser war. Menschen, Gesichter, Gedanken, die am Boden
entlangglitten, hin und her geweht von der Strömung.
Angestrengt dachte
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