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Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk van Versendaal
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blickte in den Himmel und dachte, wie trostreich das Ziehen der Wolken war. Ihr fiel Karlsson ein, der kleine, dicke Mann, der mit einem Propeller auf dem Rücken durch Astrid Lindgrens Bücher fliegt. Sie summte für sich, unhörbar für die anderen: Karlsson, Karlsson, ich bin, das müsst ihr glauben, der allerbeste Karlsson auf der Welt.
    Sie war durstig, als sie erwachte. Sie hatte auf ihrem Arm gelegen, schwer und gefühllos ließ er sich kaum rühren. Myrbäck beugte sich ganz nah über sie.
    – Holzapfel liegt verschnürt wie ein Paket dort unten, sagte er. Wir können ihn so nicht liegen lassen. Vielleicht sind all seine Rippen gebrochen. Und er bekommt keine Luft.
    Die Sonne war gewandert, hatte sich gesenkt und lag in Wartestellung über den Wipfeln der höchsten Pappeln. Viele Stunden blieben ihnen nicht mehr.
    Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre linke Brust. Sie rückten aufeinander zu, bis sie seine Wärme auf sich überspringen spürte, und stellte sich vor, wie die Atome zwischen ihren Körpern hin- und hertobten, sich einander näherten, sich zusammenschlossen, bis aller Raum zwischen ihnen verschwunden war, aufgelöst; und nah genug war ihr auch dies nicht. Sie atmete die Luft, die aus ihm kam, und küsste seine Lippen. Sie schmeckten nach Blut.
    – Du bist verletzt, sagte sie.
    – Das ist nichts. Ich habe in meine Wange gebissen. Aber ich habe eine Scheißangst.
    Sie küsste ihn wieder. Als er sich von ihr löste, glaubte sie, ihn nicht noch einmal zu küssen, seine Haut nie wieder zu berühren, wäre eine unerträgliche Entbehrung.
    – Warum bin ich so schwer von Begriff?, fragte sie in die Luft.
    – Wie meinst du das?
    – Wenn ich früher verstanden hätte, alles wäre anders gekommen. Dann hätte ich Leine gezogen im Moment eurer Ankunft. Du und dein Sohn, über euch beiden schien ein Unstern. Sie sah, dass er etwas sagen wollte, aber sie kam ihm zuvor.
    – Doch dann wäre ich nicht bei dir jetzt. Sie strich ihm über die Wange, erschrak jedoch, weil die Berührung ihr wie ein Abschiedsgruß vorkam.
    – Wann hast du von ihrem Tod erfahren?
    Sie war überrumpelt und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass Myrbäck nach ihrer Mutter fragte.
    – Am Ende des Winters. Sie muss irgendwann ins Laub und in den Schnee gefallen sein. Der Hund von Spaziergängern hat sie gefunden. Tante Gunilla kam angereist, um uns von ihrem Tod zu erzählen. Ich war es, die später am Tag vor zwei Polizisten stand und vor einer Strickjacke, in der meine Mutter gestorben war. Ja, das ist ihre Jacke, habe ich gesagt. Aber begriffen habe ich nichts. Bis heute nicht. Auch Lilja hat es nie begriffen. Ich habe immerhin irgendwann aufgehört, nach einer Antwort zu suchen. So ist es eben, sage ich mir. Meine Mutter wurde ein Opfer der Umstände. Und die Dinge sind so, wie sie sind, und wer sind wir, sie verstehen zu wollen? Lilja hat es schwerer gehabt. Zigaretten, Drogen, Alkohol, die Leute sagen, kein Wunder, bei dem, was sie erlebt hat, schon als kleines Mädchen, da musste sie bei den Junkies in Malmö landen. Und die Leute haben natürlich Recht. Wir haben immer Recht mit unseren platten Weisheiten. Wer so viel Pech hat wie Lilja, der erholt sich nicht.
    Myrbäck betrachtete ihren Mund, als würde er die Worte abwägen, die gerade aus ihm herausgekommen waren. Es schien ihr, als wolle er etwas erwidern oder ihre Geschichte weiterspinnen auf ein glückliches Ende hin, dann aber starrte er auf einen Flecken hinter ihrem Rücken, auf die Regenrinne, so als grübelte er über das windgesäte Unkraut, das dort hoch über der Erde hatte keimen können.
    Sie stand auf, leer im Kopf, und streckte ihre Arme. Sie hüpfte ein paar Mal auf der Stelle und trat an den Rand des Daches. Sie tat noch einen Schritt, dann noch einen, und weiter ging es nicht.
    Ein leises Summen stieg in ihrem Bauch auf und schwirrte schmerzhaft durch die Brust. Das war dieser Abgrund in ihr, in dessen Tiefen sie nie rührte, der mit einem Mal aufsprang und den Hass entlud, der an ihr festsaß wie Haut und Haare, den Hass, der mit ihr groß geworden war, den Hass auf jene, die diese Welt zu einem unerträglichen Ort machten. Den Hass auf die Engel, die nicht warten, auf keinen von uns.
    Sie sprang.

Christiania, Dezember 1985
    Am Ufer treiben ein paar Plättchen Eis. Sie sind zu dünn, um sie an Land heben zu können. Vorher zerbrechen sie. Aber er steht schon auf dem Eis. Er. Er in seinen Eishockeyschuhen, er mit seinem Schlitten. Er

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