Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
akzentfreiem Englisch. Nehmt meine Strümpfe. Sie löste ihre Hände von der Wunde, um die Schuhe zu öffnen. Blut sickerte in den Schaft ihres lehmverschmierten Wanderschuhs.
Sie sah ganz blass aus. Laut zog sie ihren Tränenrotz hoch.
– Du bist Jana, wie? Was tust du hier? Sassie half ihr, den Kniestrumpf vom unverletzten Bein zu ziehen. Die Frau legte ihn sich vorsichtig um ihren muskulösen Schenkel, knapp oberhalb der Wundlöcher, zog ihn mit einem Rucken zusammen und verknotete seine Enden. Der Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Sie sagte:
– Ich bin auf der Flucht. Genauso wie ihr.
– Warum sollten wir dir glauben? Nur ein einziges Wort?
– Weil ich sonst nicht hier wäre. Denkt mal nach! Die Frau hatte grüngraue, mandelförmige Augen. Ihre langen Wimpern waren vom Weinen verklebt, und Sassie konnte den Blick nicht lassen von ihren Lippen, die farblos glänzten, als hätte sie eben gerade noch Lipgloss aufgelegt.
– Die Männer dort unten wollen von mir nichts anderes als von euch. Sie wollen wiederhaben, was ihr uns genommen habt. Wenn es ihnen in den Kram passt, am Ende auch euren Tod. Und meinen Tod. Er hat nicht aus Spaß auf mich geschossen.
– Er? Wer ist er?
– Oliver.
– Und der andere?
– Simon.
– Und wer ist wer?
– Spielt doch keine Rolle.
– Hast du eine Waffe?
– Nein. Die Frau schüttelte den Kopf, immer wieder. Sie hörte nicht auf, bis Sassie sie unterbrach.
– Warum nicht?
– Sie haben sie mir genommen. Weil sie mich nicht mehr brauchen. Vor Schmerz zog sich ihr rundes Gesicht zusammen; plötzlich wurde es schmal.
Sassie legte ihr die Hand auf die Schulter, zog sie aber wieder weg. Ihr fiel ein, dass sie die Hexe war, die einen Polizisten aus ihrem Weg geräumt hatte wie ein Verkehrshütchen.
– Wie habt ihr uns gefunden?
– Dafür brauchte es keinen Bluthund. Eine Landkarte und ein bisschen Nachdenken haben gereicht.
– Ihr seid zu Fuß hinter uns her?
– Na, wie sonst?
– Und, was wollt ihr? Nicht mal Schuhe haben wir.
– Sie wollen wissen, wo die Kiste steckt. Um das zu erfahren, werden die demnächst die Leiter besteigen. Früher oder später werden sie die Geduld verlieren. Egal ob ihr bewaffnet seid oder nicht. Auf die Nacht werden sie nicht warten. Also, wer hat sie?
Wo hat sie den Kommandoton her?, fragte sich Sassie. Sie erwog kurz, ihr gegen das verwundete Bein zu treten.
– Sagt schon, wer hat sie?
– Ich nicht, sagte Sassie. Der Schweiß auf ihrem Rücken kühlte ab, ihr Herz schlug wieder ruhiger.
– Ich auch nicht, sagte Myrbäck. Ich hatte sie mal. Sogar ein gutes Versteck habe ich gefunden. Irgendjemand hat es entdeckt.
– Jan?
– Niemals. Er hätte längst das Weite gesucht.
Seufzend sackte die Frau zur Seite und ließ sich auf den Rücken gleiten. Müde schloss sie die Augen.
– Was ist mit ihm?, fragte sie. Könnt ihr ihn sehen?
– Jan? Du machst dir Sorgen um Jan?, fragte Sassie spöttisch.
Jan und Jana, welch schönes Pärchen! Das ging zu weit, fand sie. Dass die beiden es als Gaunerduo versuchten, war schlimm genug, aber auch noch als Bonnie und Clyde! Zu schnell kam sie aus der Hocke hoch. Sobald der Schwindel verebbte, legte sie sich an den Rand des Daches und schob vorsichtig ihren Kopf vor. Durch die geborstenen Regentraufen hindurch sah sie einen der Blonden. Er stand mit dem Rücken zu ihr und über Holzapfel gebeugt. Es sah aus, als fessele er Jan die Beine. Dann trieb er ihn mit gezielten Tritten in den Rücken ein Stück vor sich her. Es musste fürchterlich wehtun, aber wenn Holzapfel Laute von sich gab, so waren sie hier oben nicht zu hören. Er war mit seinem eigenen T-Shirt geknebelt worden.
Töten werden sie ihn nicht, dachte sie. Solange sie nicht bekommen, was sie von uns wollen.
Jukki hatten sie an Ort und Stelle liegen lassen. Vom anderen Blonden war nichts zu sehen. Wo steckte er?
– Hallo, brüllte sie hinunter. Hallo! Man musste ihre Stimme ewig weit hören.
Der Blonde drehte sich und sah zu ihr auf. Er antwortete nicht.
– Wer von beiden bist du?, rief sie zornig.
– Simon? Oliver?
– Seid ihr Brüder? Du und der andere?
– Kommt ihr aus demselben Wurf?
– Bist du taub?
Der Mann würdigte sie keiner Antwort. Von hier oben hatte er ein farbloses Gesicht ohne allen Ausdruck. Er beugte sich wieder über Holzapfel und bearbeitete ihn weiter.
Sie mochte nicht länger dabei zusehen und kroch zu den anderen.
Die Schwarzhaarige schien zu schlafen. Unter all der Erschöpfung
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