Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
zwischen dem Möbelgeschäft Willems und dem Kürschner Freddy Klaeger. Die Daumen in den Gesäßtaschen wartete er auf kleine Mädchen, die sich bei ihm nach der Schule mit bröseligem Marokkaner oder Captagon eindeckten. Er war der schickste Dealer zwischen St. Pauli und Eimsbüttel. Trotz der Apparatur, die er im Gesicht trug. Ein Handikap nämlich hatte die Natur Jan mitgegeben. Er trug eine Brille, deren Gläser dick waren wie Panzerglas. Er blickte durch einen Schleier von acht Dioptrien auf die Welt, seine Augen waren zwei hellblaue Teichflächen. Oft klagte er über Kopfschmerzen.
Eines Nachts waren sie am Isebekkanal in eines der Bootshäuser der das Ufer säumenden Oberschulen eingebrochen. Sie ließen eines der Ruderboote zu Wasser und ruderten mit einer Flasche Apfelkorn an Bord bis in den Leinpfadkanal. Vor einer der besonders protzigen Villen legten sie mit ihrem Doppelzweier an, und Holzapfel kackte, beseelt von einem diffusen Klassenhass, auf die Treppen zu einem Winterpavillon. Gern hätte Myrbäck es ihm gleichgetan. Die Kunst jedoch, eine Notdurft nach Belieben zu verrichten, beherrschte er nicht.
Sie legten wieder ab, doch ohne die lenkenden Kommandos eines Schlagmannes gelang es den längst Betrunkenen nicht mehr, harmonische Schlagfrequenzen aufzubauen. In Höhe des Rondeelteichs prallte ihr wackeliger Zweier gegen einen Baumstamm, krängte erst, kippte dann, und sie beide rollten ins Wasser. Holzapfel tauchte ohne seine Brille wieder auf. Ein Ersatzgestell besaß er nicht, und Kontaktlinsen zu tragen, nein, Scheiße, das vertragen meine Augen nicht, wimmerte er, als sie sich am Wurzelwerk einer Weide an Land zogen.
Schöner als in den nächsten Tagen sah St. Pauli Nord ihn nie wieder. Befreit von dem Gestell in Gesichtsmitte, übernächtigt und mit Augen, die misstrauisch in die Welt blickten, weil sie nicht mehr erkannten als eine Konturenlandschaft, gewann sein Ausdruck an Tiefe. Weil er sich ohne Brille nackt fühlte, legte er ein Stirnband an. Björn Borg konnte einpacken.
Ohne seine Gläser vermochte er einen Hauseingang nicht von einem Lastwagen zu unterscheiden, geschweige denn eine seiner Stammkundinnen von einer Zivilbeamtin des Drogendezernats. Er pries der Frau gerade die Vorzüge seines duftenden Morning Glory an, als zwei ihrer männlichen Polizeikollegen ihn in ihre Mitte nahmen. Sie wurden überrascht. Der harmlose Blinde mit dem Aussehen des schwedischen Tennisgenies brüllte, er schlug und trat nach allem, was er treffen konnte. Es half ihm nichts. Mit ausgekugelter Schulter und blutiger Nase wurde Holzapfel erst in die Sanitätsstelle eingeliefert, dann in die Beobachtungsstation des Untersuchungsgefängnisses, schließlich in eine Zelle.
Als Myrbäck ihn vier Monate später am Tor der Festung aus Backsteinmauern und Stacheldraht in die Freiheit begrüßte, war Holzapfel schmal geworden. Seine Jeans flatterte um Hüften und Beine, er trug eine gewaltige Hornbrille, die der Gefängnisarzt ihm verschrieben hatte.
– Nie wieder in den Knast, waren seine ersten Worte in Freiheit. Da ist kein Mensch, mit dem du reden kannst.
Die nächsten Wochen verbrachte er liegend auf seinen Matratzen und ernährte sich von Pellkartoffeln mit Quark und Schnipseln blauen Löschpapiers. Es waren die LSD- getränkten Reste einer Sonderlieferung, die er über windige Kanäle von der Ostberliner Humboldtfakultät bezogen hatte, am Institut für Pharmazie von Studenten in bemerkenswerter Reinheit hergestellt.
Gelähmt von Mutlosigkeit, geplagt von Schweißausbrüchen und gefangen in halluzinogener Entrückung ließ er seine Karriere bei der Post ebenso sausen wie den Handel mit rotem Libanesen, Acid, Amphetamin. Er sattelte um – weil Myrbäck ihm überzeugend darlegen konnte, dass Autos im Grunde nicht schwieriger zu knacken waren als eine Tafel Schokolade.
Seit fast zehn Jahren leben wir jetzt schon vom Raubhandel, dachte Myrbäck. Reich sind wir beide nicht geworden.
A n einem späten Vormittag betraten Dorota und Patrycja Stanczak das Danziger Polizeipräsidium, eine steinerne Trutz burg unweit des Altstadtrings, um das Verschwinden des Zbigniew Nikodem Stanczak amtlich zu machen. Äußerlich gefasst erschienen Mutter und Tochter auf der Wache, doch was sie berichteten, unterschied sich von den sonst täglich in Danzig aufgegebenen Suchanzeigen in beunruhigender Weise.
Der zweiundvierzigjährige Ehemann und Vater hatte seit vierzehn Tagen keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben. Ein
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