Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
Arbeitszimmer, stellte sich in die Mitte des Raumes und sah sich um. Winzige rote Lämpchen glühten aus den Höhlen eines Arrangements von Computern, Bildschirmen und Kabelsträngen. Wenn er den Atem anhielt und konzentriert lauschte, konnte Myrbäck das feine Surren des Stroms im Stand-by-Modus hören.
Niemals! Myrbäck begriff. Niemals ließ Jan Holzapfel eine Internetverbindung offen, wenn er seine Wohnung verließ. Ausspionieren, sagte er immer, ist ein Kinderspiel. Das Netz überwacht uns, Modem und Telefon forschen uns aus; der Stand-by-Modus, die reinste Einladung zum Lauschen. Myrbäck hatte sein paranoides Gerede nie ernst genommen.
Das Summen jedoch, das jetzt aus der Kabelwelt unter den Arbeitstischen bis an sein Ohr drang, das Leuchten der Lämpchen, sie konnten nur eines bedeuten: Jemand war in Jans Wohnung eingedrungen und hatte sich an den Computern zu schaffen gemacht. Myrbäck wurde die Kehle trocken.
In der Küche suchte sich Myrbäck ein halbwegs sauberes Trinkglas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser aus dem Hahn. Mit dem Rücken lehnte er sich an die Wand und versuchte, die Kopfschmerzen aus seinen Schläfen zu massieren. Ein kaum hörbares Surren bohrte sich in seine Ohren.
Er wollte die Küche gerade verlassen, als er sah, dass über dem Resopaltischchen vor dem Fenster das Leben tobte. Ein Schwarm von Fruchtfliegen balgte sich im letzten Sonnenlicht des Tages, Quell und Zentrum ihrer Freude schien eine Obstschale zu sein. Holzapfel aß kaum einmal Obst, schon gar nicht zu dieser Jahreszeit.
Myrbäck trat zum Tisch und beugte sich misstrauisch vor. In der Obstschale lag ein abgeschnittener Finger. Ein Finger, ganz für sich allein, kreideweiß an seiner Kuppe mit dem abgekauten Nagel, dunkelblau dort, wo er zur Futterstelle emsiger Fluginsekten geworden war.
Myrbäcks Herz setzte aus, verweigerte seine Mitarbeit, bis es mit einem Trommelwirbel in seiner Brust wieder zu Leben erwachte. Er stürzte aus der Wohnung, warf sich auf sein Rad und raste los.
Im Parkhaus der Hamburger Messe AG herrschte erheblich mehr Betrieb als in der Nacht zuvor, doch wohl war Myrbäck nicht, als er das zweite Untergeschoss betrat. Der Q7 stand dort, wo er ihn abgestellt hatte. Die Alufolie lag unberührt unter der Frontscheibe, das Handschuhfach aber war offen. Jemand hatte die Rückbank nach vorn geklappt. Taucherbrille, Schwimmflossen und Tupfenkleid waren verschwunden. Myrbäck machte, dass er wieder davonkam.
Ed hatte geduldig auf seinen Vater gewartet. Er saß an seinem Schreibtisch, Schulhefte und Federtasche vor sich. Die Geduld hat er von mir geerbt, sagte sich Myrbäck. Unkonzentriert half er seinem Sohn bei den Hausaufgaben: Schreibkurs mit Gripsi, suche einige Reimwörter auf Rot.
Brot. Not. Tot.
Was fühlt ein Mensch, überlegte er, wenn er in einer Explosion stirbt? Wenn er in die Luft gejagt und verbrannt wird? Wusste Raschke um die Gefahr, in der er schwebte? Wer ist als Nächstes dran? Die Fragen quälten Myrbäck auch noch, als er für sich und Ed eine Tiefkühlpizza wärmte, anschließend den Sohn in ein heißes Eukalyptusbad steckte, glitschte ihm doch zäher grüner Erkältungsschleim aus beiden Nasenlöchern. Er brachte Ed zu Bett, nahm Platz vor dem Fernseher und wanderte zwischen den Sendern umher, bis er bei den Regionalnachrichten hängen blieb. Drei Sätze und eine Fotografie, die er schon in der Digitalmappe der Polizei gesehen hatte. Mehr nicht. War ein toter Raschke keine Aufregung wert? Wenn ich eines Tages in Stücke fliegen sollte, überlegte er, dann wäre hoffentlich ein bisschen mehr los an öffentlicher Empörung. In einer Woge von Selbstmitleid füllte er ein Wasserglas mit Wodka und leerte es in einem Zug. Dann noch eines, und jetzt kam ihm der Gedanke: Es muss mich jemand im Hinterhof gesehen haben. Unmöglich, dass mein Besuch bei Raschke unbemerkt geblieben ist. Früher oder später wird die Polizei mich sprechen wollen. Und dann?
Vielleicht war er sechs gewesen, vielleicht sieben. Er hatte die Böschung neben den Gleisen der S-Bahn erklommen, den Gatterzaun überstiegen und sich schleichend, in Indianermanier, dem Hasenberg genähert. Der trug seinen Namen, weil hier, mitten im großstädtischen Niemandsland, Kaninchen unter dem Geröll der Gleisanlagen lebten.
Er war gekommen, um sein Katapult auszuprobieren. Hinter den Büschen des Spielplatzes, bei den Schaukeln, hatte er es gefunden, ein Geschenk des himmlischen Zufalls, denn Katapulte waren ihm
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