Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
immer wusste kein Mensch zu sagen, wer sie war, noch woher sie kam. Dass dem Mann der rechte Zeigefinger fehlte, war dem Gerichtsmediziner erst bei einer gründlichen abschließenden Obduktion aufgefallen, in Anbetracht des fürchterlichen Zustandes des Leichnams ein verzeihlicher Fauxpas.
Zur Identifizierung des unbekannten Toten waren ein Gebissbefund erhoben, eine röntgenologische Untersuchung veranlasst sowie eine Blutentnahme zur Blutgruppenbestimmung durchgeführt worden.
Da eine Suche in der beim BKA eingerichteten dezentralisierten Verbunddatei namens »Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen Vermi/Utot« ergebnislos blieb und es alleine deshalb einen Anhaltspunkt gab, der Tote könnte von jenseits der deutschen Landesgrenzen stammen, schickte die Kripo das formatierte Fernschreiben KP 16 L dem Landeskriminalamt mit der Bitte um Einleitung von Identifizierungsmaßnahmen im Ausland.
Kriminalpolizisten waren in den vergangenen achtundvierzig Stunden von Haus zu Haus gegangen – auf eine neuerliche Befragung des Rapsbauern Jörg Kallweit war allerdings verzichtet worden – und hatten in den Höfen und Ställen zwischen Döbelsen und Achtermoor nach auffälligen Vorkommnissen befragt, wer zu antworten in der Lage war. Alles Klinkenputzen aber blieb ergebnislos. Da niemand hier jemals von Zbigniew Nikodem Stanczak gehört oder ihn gesehen hatte, fiel auch sein Name nicht.
D ie vormals marineblaue Beckenregion war in ihrem Zentrum bräunlich angelaufen. Die Beule am Kopf zu einer kaum merklichen Erhebung geschrumpft. Knut Giovanni Myrbäck stand vor dem Badezimmerspiegel und stöhnte, weniger vor Schmerz denn vor Müdigkeit. Es war zwei Uhr früh. Fröstelnd stieg er in einen nachtblauen Jogginganzug und schlich aus der Wohnung.
Schon im Bogengang des Gewerbehofes roch es nach Schutt und Verbranntem. An der Stelle, wo die »Perma-Corro GmbH« residiert hatte, war von weitem nur ein Trümmerhaufen zu erkennen, ein Bruchwald, aus dem einzelne Holzbalken herausragten. Teile des Dachs waren beiseitegesprengt worden und hatten Raschkes weißen VW-Transporter unter sich begraben.
Myrbäck bückte sich unter dem blauweiß gestreiften Absperrband hindurch und stieg vorsichtig über Geröll und Mauerbrocken, bemüht, nicht den Schmerz in seinem Rücken durch einen Fehltritt zu wecken. Der Grundriss der Werkstatt war durch die Explosion verwischt worden, ihr Fundament an manchen Stellen aufgerissen.
Es war dummdreist gewesen herzukommen. Hier war erst gestern ein Mensch gestorben, ließ denn die Polizei einen solchen Ort nicht beobachten? Er stolperte in den Schatten hinter der seitlichen Mauer, von der ein paar Lagen Mauersteine übrig geblieben waren, und sah sich um. Die nächstliegenden Fensterscheiben waren allesamt geborsten. Einige hatte man mit Karton provisorisch geflickt; nur zwei der Fenster zum Hof waren erleuchtet. Alles war still, aber nicht immer ist die Stille ein richtiges Geräusch, dachte Myrbäck, und bloß weg von hier. Doch ich will sie mit eigenen Augen sehen, die Stelle, an der Raschke gestorben ist, kurz nachdem ich ihn verlassen habe. Mit seinen belegten Broten, mit der Thermoskanne und öligen Kompressorschrauben in den Händen.
Nichts von alldem war zu finden. Auch keine Umrisszeichnung einer Leiche, kein Hinweis darauf, wo man den toten Mann mit seinem Karpfenmund gefunden hatte. Verstreut lagen Werkzeugteile herum, verkohlte Pinsel, geplatzte Farbeimer, Korrosionsschutzfarben, die ineinandergeflossen waren wie Klecksereien eines Kleinkindes. Eine Gasexplosion, eine Verpuffung, das klang plausibel. Raschke und Holzapfel heizten ihre Werkstatt mit Gas. Ein Leck in der Leitung, eine poröse Dichtung, und schnell sammeln sich ein paar Kubikmeter entwichenes Gas, die darauf lauern, dass der Lichtschalter umgestellt, ein Streichholz entzündet wird.
Die Werkstatt war ein ungastlicher Ort gewesen. Im Sommer stahl das Laubwerk der Kastanie das Sonnenlicht, erst abends sickerte es matt durch die verstaubten Fenster hinein. Ab November fror man in klammer Kälte, der Gasofen heizte nur mäßig. Auch hielten die Frauen sich grundsätzlich fern. Der Hinterhof der Leverkusenstraße 28 war ein männliches Reservat voller Metalle, Öle, Hebebühnen.
Myrbäck tastete sich zu jener Stelle, an der einmal der Werkzeugschrank seinen Platz gehabt hatte. Nirgends hatte die Explosion schlimmer gewütet. Die Blechwände waren von der Druckwelle zerknüllt worden wie Geschenkpapier.
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