Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
verboten wie Pusterohre oder Schlucke vom abgestandenen Bier des Vaters.
In der nächsten Stunde hockte er, regungslos und halb verborgen vom Brennnesselgestrüpp, vor den Löchern der Erdbauten. Die Kaninchen ließen sich von der Gegenwart des Jungen nicht stören, sie waren Menschen gewöhnt. Mühelos hätte er eines von ihnen töten können. Es war eine solide Zwille aus Eisen, die er in seinen schwitzigen Händen hielt, nicht eines jener Holzkatapulte, wie sie in Spielzeuggeschäften an jedes Kind verkauft wurden. Aber er traute sich nicht.
Er stellte sich vor, wie das samtige Fell des Kaninchens unter dem Aufprall des gezackten Steins aufplatzen, wie es sich mit dem Blut der Wunde vollsaugen würde. Er fürchtete sich vor den Angstschreien des Tieres, obwohl er noch nie ein Kaninchen hatte schreien hören.
Kurz nach seinem Abstieg vom Hasenberg fand seine Zer störungswut ein lohnendes Ziel. Die Nummernleuchte des Hauses Nummer 74 der Bartelsstraße, einer jener immergleichen Ziegelbauten, aus denen die halbe Stadt nach dem Krieg aufgebaut worden war. Die Glaskugel über dem Eingang strahlte ein gelbliches Leuchten in die Dämmerung, in der er im Rinnstein zwischen zwei Autos Position bezog. Er bettete seinen Stein in das weiche Leder des Spanngummis, dehnte es nach Kräften, nahm die Lampe ins Visier und entließ das Geschoss in seine Schleuderbahn.
Er hatte nicht wirklich an einen Treffer geglaubt. Doch das bauchige Glas zersprang mit einem Knallen, Splitter klimperten übers Pflaster! Zufrieden visierte er die Lampe des Nebenhauses an. Noch ein Volltreffer! Während er sein Zerstörungswerk bestaunte, sprang die Haustür auf. Ein Mann im blauen Arbeitskittel erstürmte den Gehweg, sah auf die Scherben zu seinen Füßen, blickte zu ihm und rief: Du wirst dein blaues Wunder erleben!
Myrbäck verstand nicht, was die Worte des Mannes mit den buschigen Koteletten bedeuten mochten, nur, dass sie ein böses Versprechen an ihn waren. Er lief davon. Noch Monate nach seinen Volltreffern überkam ihn, unweigerlich vor dem Einschlafen, die schmerzende Ahnung einer sich nahenden Bedrohung, eines Unheils, das ihn eines Tages schicksalhaft strafen würde. Vielleicht war er erst jetzt, über zwanzig Jahre später, reif für sein blaues Wunder.
Christiania, Juni 1985
Sie wachte auf, weil sie pinkeln musste. Immer wenn sie nachts zum Pinkeln rausmusste, bekam sie Angst, auf eines der Silberfischchen zu treten, die in der Toilette wohnten und verstört unter den Sockelleisten verschwanden, wenn sie das Licht anschaltete. Manche rasten so lange kopflos am Porzellan der Kloschüssel entlang, bis sie erschöpft die Flucht aufgaben und sich mitten auf einem Dielenbrett tot stellten. Es schüttelte sie, wenn sie sich vorstellte, wie es wäre, mit nackten Fußsohlen auf ihre kleinen, glänzenden Leiber zu treten. Trotzdem hatte sie noch nie für die Silberfische gebetet. So, wie sie beim Zubettgehen stumm für die Igel betete, die morgens blutig und platt gefahren auf dem vom Tau noch feuchten Asphalt des Refshalevej lagen, damit sie in den Himmel kämen. Oder für die Schmetterlinge, die Lilja fing und so lange in einem leeren Apfelmusglas herumflattern ließ, bis sie sich auf den Boden setzten, ihre Flügel zusammenlegten und starben. Weil Lilja sich nicht traute, sie mit einer Nadel zu durchbohren, so, wie es die echten Sammler machten, um ihren Fang dann auf einem Spannbrett auszustellen.
Lieber Gott, mach. So fing sie an. Sie betete im Stillen, damit ihre Mutter nicht davon erführe. Die würde schimpfen, einen ganzen Tag lang.
Sie hasste Spinnen und im Sommer die grünen Schmeißfliegen, und Tausendfüßler fand sie ekelig, auch die dicken gelben Maden, die unter dem Moos bei den Johannisbeersträuchern lebten. Und jetzt hatte sie Dutzende von Ameisen mit einem Stock zerquetscht und den Hahn von Preben mit Steinen beworfen, und vielleicht war sie in einer der letzten Nächte, ohne es zu bemerken, auf einen Silberfisch getreten. Sie hatte Tiere gequält, und jetzt war auf einmal ihre Mutter verschwunden.
Sie hüpfte vom Klo, ging auf Zehenspitzen zum Bett ihrer Mutter und schob sich unter die kalten Decken. Es roch nach Parfüm und nach Tränen, fand sie. Lieber Gott, mach.
B ist du es? Hallo! Wo bist du? Holzapfels Stimme klang fern. Winzig. So als stecke er selbst im Telefon.
– Was, wo bist du?, fragte Myrbäck. Wo steckst du?
– Kann ich dir nicht sagen. Geht echt nicht.
– Wo bist du? Myrbäck fragte
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