Die Engel warten nicht: Kriminalroman (German Edition)
trotzdem.
Holzapfel legte auf.
Ein paar Sekunden später klingelte es.
– Hallo? Hallo?
– Mach dich aus dem Staub, sagte Holzapfel. Sofort!
– Erklär das mal genauer. Wo bist du?
– Sag ich nicht. Doch nicht am Telefon. Spinnst du?
– Du könntest aber vorbeikommen. Und mir verraten, was passiert ist.
– Geht leider auch nicht.
– Vermisst du einen Zeigefinger?
– Was? Nein. Wieso?
– Einen Ringfinger?
– Was quatschst du? Ohne eine Antwort abzuwarten, unterbrach Holzapfel die Verbindung.
Es klingelte.
– Was soll das?, legte Myrbäck los. Willst du witzig sein?
– Zehn Sekunden am Stück, weißt du doch. Länger soll man nicht telefonieren.
– Was? Wieso ausgerechnet zehn Sekunden?
– Sonst wissen sie, wo du steckst.
– Sie? Wer sind sie?
– Denk mal selber nach.
– Verarsch mich nicht!
– Hab ich nicht vor. Sag mir nur, wo du den Wagen geparkt hast.
– Du wirst mir keine Fragen stellen. Die Fragen stelle ich, hörst du. Warum hast du mich im Kino sitzen lassen, neben vier schwarzhaarigen Hexen? Warum hast du mich dieses verdammte Auto besorgen lassen? Warum hast du dich einen Dreck gekümmert? Also: Such dir dein Scheißauto selber.
Stille. Holzapfel hatte längst aufgelegt. Die bequemste Art, mit Vorwürfen umzugehen.
Es klingelte.
– Von welchen Hexen laberst du?
– Egal, vergiss es. Erklär mir endlich, wo du steckst!
– Geht nicht. Alles ist schiefgelaufen. Tut mir leid.
– Tut mir leid. Tut mir leid. Myrbäck äffte ihn nach. Tut es dir leid, dass ich mir den Schädel in einer Baugrube aufgeschlagen habe? Dass Raschke tot ist?
– Was?
Holzapfels Überraschung klang echt. Am Telefon die Stimme zu verstellen, ist allerdings kein Kunststück, dachte Myrbäck.
– Weißt du das nicht? Du weißt nicht, dass Raschke tot ist?
Schweigen. Myrbäck bildete sich ein, das Kreischen von Möwen zu hören. Und ein Rauschen, wie starker Wind es in die Elektronikschaltungen eines Mobiltelefons bläst.
– Wo steckst du, Mann?, fragte er wieder.
– Ich sag dir nur eines, antwortete Holzapfel. Hau ab. Sieh zu, dass du verschwindest. Mach dich aus dem Staub. So schnell du kannst.
– Leck mich doch. Denk du dir lieber aus, wie ich an mein Geld komme. Ich möchte bezahlt werden, denn ich habe meinen Job erledigt. Im Gegensatz zu dir.
Myrbäck sprach ins Nichts hinein. Die Verbindung war unterbrochen worden. Vergeblich wartete er auf das nächste Klingeln.
Wie sollte er Holzapfels Sätze deuten? In Jans Wesen paarte sich der kindliche Eifer gelegentlich mit Verstand. So seltsam seine Worte auch geklungen haben, seine Vorsicht muss ich ernst nehmen, sagte sich Myrbäck. Seit Jahren versorgte sich Jan mit den Sim-Karten der verschiedensten Telefongesellschaften, ständig wechselte er seine Mobiltelefone. Kein Gauner von Niveau, predigte er, benutzt zweimal hintereinander dieselbe Nummer.
Myrbäck musste eingestehen, dass er in technischen Dingen zu schläfriger Mutlosigkeit neigte. Was ihm von Jahr zu Jahr mehr zum Nachteil gereichte und das Gleichgewicht der Kräfte ins Wanken brachte, das früher einmal zwischen ihnen geherrscht hatte. Aus seiner Unbegabung war eine Abhängigkeit entstanden. Auch jetzt war es wieder Holzapfel, der mehr wusste als Myrbäck.
Sie waren einander vor einem Laufband des Postamtes am Kaltenkirchener Platz begegnet. Myrbäck hatte, siebzehnjährig, die Schule verlassen und musste sein Geld mit Nachtschichten auf den Verladebahnhöfen der Paketpost verdienen. Holzapfel, zwei Jahre älter, hatte nicht nur die Schule längst geschmissen, er war auch bei seinen Eltern ausgezogen.
Holzapfel sah toll aus. Nicht einmal die speckige Ohrenmütze, die er ständig trug, konnte ihn verunstalten. Ein längliches Gesicht mit feinen Zügen, großem Mund, gerader Nase; in seinen schulterlangen, gelockten Haaren blieben die Mädchen hängen.
An seine berufliche Zukunft verschwendete Holzapfel kaum Gedanken. Rallyefahrer, das wär’s, sagte er einmal. Als Neuling auf dem zweiten oder dritten Platz zu landen, dann zahlen dir die Sponsoren alles. Benzin, Reifen. Reparaturen.
Bei der Post ließ man ihn nicht mal die Schlepper fahren.
Ein Vierteljahr nach ihrem ersten Aufeinandertreffen bezogen sie eine Souterrainwohnung in einem Altbau in der Susannenstraße. Zwei Zimmer ohne Küche, ohne Bad, aber sie bauten eine Dusche in dem engen Toilettenschlauch ein. Nachmittags stieg Holzapfel in seinen Overall, kreuzte die Straße und bezog Posten vor der Baulücke
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