Die Engelsmuehle
Server bildeten mehrere Gänge, die er einen nach dem anderen durchschritt. Die schwarz gewordenen Metallgehäuse spiegelten sich im Licht der Taschenlampe. Die Festplatten, Magnetbänder und Stromverteiler waren zu bizarr geformten Kunststoffklumpen geschmolzen. Aus den verkohlten Cinchsteckern hingen nur noch zähe Fäden, die früher einmal einen Kabelsalat dargestellt hatten. Die Daten von über einer Million Versicherten und etwa vierhunderttausend mitversicherten Angehörigen waren hier gespeichert gewesen. Bestimmt hatte die EDV-Abteilung täglich ein oder zwei Back-ups auf andere Server geladen, die sich aber ebenso zu Asche verkrümelt hatten. Erst jetzt wurde Hogart das Ausmaß des Schadens bewusst. Die Sachbeschädigung von sieben Millionen Euro war das geringste Übel.
Hogart trat aus dem Labyrinth der Servertürme heraus, um an der Wand entlang den nächsten Computerraum zu erreichen. Auch hier waren die Oberlichter nicht bloß gekippt, sondern vollständig geöffnet worden, damit das Feuer mit Sauerstoff gefüttert werden konnte. Ja, es sollte lange brennen, damit auch wirklich alles vernichtet wurde. Die Hitze hatte sogar die Fensterscheiben zum Platzen gebracht. Überall im Raum lagen geschmolzene Glasklumpen.
Hogart marschierte unter den Fensterrahmen hindurch und stockte, als einige Scherben unter seinen Schuhen knirschten. Auch an dieser Stelle war das Glas auf dem Boden geschmolzen und hatte neue, abstrakte Formen gebildet. Doch aus irgendeinem Grund lagen diese Bruchstücke nicht im Raum verstreut, sondern direkt unter dem Fenster. Hogart stieg vorsichtig aus dem Scherbenhaufen und ging in die Hocke. Er ließ den Lichtstrahl über das zu Klumpen verhärtete Glas wandern. Deutlich war sein Schuhabdruck in den Trümmern zu sehen. Es gab nur eine Erklärung, weshalb sich die Scherben direkt unter dem Fenster befanden. Jemand hatte draußen das Gitter abmontiert, war vom Straßenniveau durch den Lichtschacht gestiegen, hatte von außen die Scheibe eingeschlagen, das Fenster geöffnet und war in den Keller geklettert. Die Oberlichter befanden sich in einer Höhe von etwa einem Meter achtzig über dem Boden. Falls der Feuerteufel hier durchgeschlüpft war und nach der Brandstiftung den Serverraum wieder durch die Oberlichter verlassen hatte, musste er entweder ziemlich groß und sportlich gewesen sein … oder er hatte ein Podest unter dem Fenster errichtet. Doch hier war nichts dergleichen zu sehen. Hogart untersuchte jeden Quadratzentimeter, fand jedoch nur Rußstücke und einen zähen Kunststoffbelag, der das geschmolzene Glas an fast allen Stellen überzog. Stammte der womöglich von einem Plastiktisch? Unwahrscheinlich. Mehrere Farben waren ineinandergeflossen, die sich nicht mehr identifizieren ließen. Hogart roch daran. Eventuell rührte die Spur von ein oder zwei Benzinkanistern, die übereinandergestapelt worden waren.
Hogart holte einige Klarsichthüllen aus seinem Aktenkoffer. Mit der Pinzette kratzte er sowohl Proben vom Glas als auch von der Asche und dem Kunststoff zusammen und tütete sie jeweils in eine eigene Folie. Dann knipste er die Taschenlampe aus. Er nahm eine alte Zeitung aus dem Koffer, breitete sie aus und setzte sich zwischen dem, was von einer Tastatur und einem Display übrig geblieben war, auf den Boden. Er lehnte mit dem Rücken am Metallgestell eines Servers und blickte durch die Dunkelheit zum Oberlicht. Nur das matte Licht der Straßenbeleuchtung fiel durch die Öffnung. Ferner Autolärm war zu hören.
Während er eine Zigarette rauchte, versuchte er zu rekonstruieren, was in jener Nacht von Freitag auf Samstag passiert war. Ostrovsky, Dornauer und Faltl waren zu Tode gefoltert, ihre Büros und Wohnungen vollkommen auf den Kopf gestellt worden. Anschließend hatte sich der Mörder Zugang zum Archiv des Kaiserin-Elisabeth-Spitals verschafft und auch von dort bestimmte Unterlagen mitgehen lassen. Mittlerweile war es Samstagmorgen, um vier Uhr früh. Der Killer schlich um das Areal der Gebietskrankenkasse, fand das Kellerfenster zum Serverraum, kletterte in den Lichtschacht, schlug die Scheibe ein, öffnete das Oberlicht, hievte einige Benzinkanister in den Raum und sprang anschließend selbst hinunter. Er zerstörte die Gasleitung, sodass es nach einem Unfall aussehen musste. Dann montierte er entweder die Brandmelder ab oder manipulierte das Notstromaggregat, das die Sprinkleranlage versorgte. Anschließend öffnete er alle Fenster und Türen, vergoss das Benzin,
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