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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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am unendlichen Himmel. Doch Honor konnte das nächtliche Konzert nicht genießen, denn es mischten sich noch andere, unheimlichere Geräusche darunter. Überall raschelte es im Unterholz. Ein Stinktier hatte in der Nähe seine bitter stechende Moschusnote abgesetzt, sodass Honor mehrmals würgen musste, doch sie lief tapfer weiter. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte Digger mitgenommen. Obwohl sie mittlerweile schon neun Monate auf dem Hof lebte, war das Verhältnis zwischen ihr und dem Hund noch immer angespannt, doch hier draußen auf der Straße hätte Diggers respekteinflößende Nähe sie sicher beruhigt. Ohne Digger gab es nur einen Weg durch die Dunkelheit: Sie musste weiterlaufen und an die Weite und Sicherheit der größeren Straße denken.
    Tagsüber waren zwischen Oberlin und Wellington immer Reiter, Wagen und Fußgänger in Richtung Norden oder Süden unterwegs. Doch als Honor die Straße endlich erreichte, musste sie feststellen, dass sie zu dieser späten Nachtstunde genauso menschenverlassen und dunkel dalag wie der Fahrweg nach Faithwell. Honor blieb mitten auf der Straße stehen und lauschte in die Nacht. Was sie hören wollte, war der Hufschlag eines Pferdes mit ungleichmäßig dicken Eisen – aus welcher Richtung es auch kommen mochte. Donovan schlief bestimmt noch nicht. Solange sich ein entflohener Sklave in der Gegend aufhielt, würde er nachts auf der Suche sein, denn auch die Flüchtlinge waren meistens nachts unterwegs und versteckten sich tagsüber. Honor blickte die Straße entlang in Richtung Norden, wo Oberlin lag, dann in Richtung Süden nach Wellington. Sie könnte einfach stehen bleiben und auf ihn warten; doch vermutlich würde sie das nicht lange aushalten, denn in der Totenstille schien das Rascheln aus dem Wald noch näher zu kommen. Gegen die Angst half weiterlaufen wahrscheinlich am besten. Sie entschied sich, die Richtung nach Wellington einzuschlagen, denn dann konnte sie immer noch bei Belle Mills Hilfe suchen, falls sie Donovan nicht begegnete. Mrs Reed wollte sie in die Sache nicht hineinziehen. Für eine schwarze Frau, insbesondere für eine ehemalige Sklavin, war es viel zu gefährlich, nachts allein unterwegs zu sein. Außerdem fürchtete Honor die funkelnden Brillengläser und die missbilligend vorgeschobene Unterlippe.
    Mit zittrigen Schritten lief sie durch die stockdunkle Einsamkeit auf Wellington zu und kämpfte gegen ihre zunehmende Panik an. Auch wenn sie mit den Haymakers oder den Freunden im Andachtsraum von Faithwell zusammensaß, hatte Honor sich oft einsam gefühlt, aber jetzt war sie zum ersten Mal, seit sie in Amerika angekommen war, wirklich mutterseelenallein. Über ihr standen nur der Mond und die Sterne, und um sie herum erstreckte sich die unermessliche Weite der gleichgültigen Natur. Honor fühlte sich ausgeliefert, und dieses Gefühl wurde immer stärker, bis es sie schließlich völlig überwältigte und sie die Unbarmherzigkeit und Grausamkeit der Welt als kalten Metallgeschmack auf der Zunge spürte. Honor blieb mitten auf der Straße stehen und schnappte verzweifelt nach Luft, als müsse sie ertrinken. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie den Blick nach innen lenkte und wie in der Andacht nach der Wärme des Inneren Lichts suchte, doch sie fand es nicht. Zu durchdringend war ihre Sehnsucht nach Donovan: Er sollte kommen und sie vor der Nacht und dem Metallgeschmack in ihrem Mund retten.
    Eine halbe Stunde verstrich. Honor war vom Kampf gegen die Angst schon fast wie gelähmt, als sie weit hinter sich endlich den ungleichmäßigen Hufschlag von Donovans Pferd hörte. Sie stellte sich an den Straßenrand und wartete. Ihre Haube und die weiße Borte am Ausschnitt ihres Kleides leuchteten matt im Mondlicht, doch Donovan bemerkte Honor erst, als sein Pferd einen Schritt vor ihr zu scheuen begann. Er fluchte und griff in die Mähne des Tiers, und als es sich beruhigt hatte, blickte er zu ihr hinab. »Honor Bright!«, rief er aus, eindeutig verblüfft, sie hier draußen zu sehen.
    Honor konnte kaum noch sprechen. »Donovan, ich … jemand braucht deine Hilfe.«
    Â»Wer?«
    Â»Ich zeige es dir.«
    Er hielt ihr die Hand hin. »Steig auf.«
    Honor zögerte, und sie hatte viele Gründe dafür. Sie trug ein Kind unter dem Herzen, und sie würde sich auf Donovan verlassen müssen,

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