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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Freunde so etwas normalerweise nicht tun. Wir dachten, Vater und der Sklave könnten durch die Falltür entkommen, durch die Heu und Stroh zu den Tieren heruntergeworfen werden, doch der Rauch muss zu dicht gewesen sein. Wir hörten … wir … wir …«
    Honor drückte die Hand ihrer Schwägerin ganz fest, und Dorcas schwieg eine Weile.
    Â»Man hat den Sklavenbesitzer nicht einmal des Mordes angeklagt, weil Vater freiwillig in die brennende Scheune gegangen ist«, setzte Dorcas wieder an, nachdem sie sich die Tränen weggewischt hatte. »Stattdessen mussten wir eine Geldstrafe für die ›Zerstörung von Eigentum‹ zahlen – damit meinten sie den Tod des Sklaven. Wir hatten Vater verloren, die Scheune und unser Geld – es war zu viel, und deshalb sind wir in den Norden gegangen. Jetzt kannst du sicher verstehen, warum wir nichts mehr mit entlaufenen Sklaven zu tun haben wollen.«
    Eine Zeit lang saßen sie schweigend beisammen. Zum ersten Mal, seit sie und Jack geheiratet hatten, fühlte sich Honor ihrer Schwägerin verbunden. Sie bedauerte, dass für dieses Gefühl von Nähe und Wärme erst eine so fürchterliche Geschichte erzählt werden musste.
    Dorcas ließ Honor im Stroh allein, damit sie selbst bestimmen konnte, wann sie zu den anderen zurückkam. Doch Honor wusste nicht, ob sie jemals zu den Haymakers zurückkehren wollte.
    Ihr Leben war immer von klaren moralischen Vorstellungen geprägt gewesen, die sich in vielen stillen Stunden des Aufmerksamen Wartens gefestigt hatten: Vor Gottes Augen waren alle Menschen gleich, und deshalb durfte auch keiner Sklave eines anderen sein. Jede Form von Sklaverei musste abgeschafft werden. In England hatte das ganz einfach und selbstverständlich geklungen, doch in Ohio war dieses Prinzip immer mehr unterwandert worden – von wirtschaftlichen Argumenten, von persönlichen Lebensumständen und von tief verwurzelten Vorurteilen, die Honor selbst bei den Quäkern spürte. Sie nahm sich selbst nicht davon aus. Es war zwar leicht, sich über die Negerbank im Andachtsraum von Philadelphia zu empören, doch ob sie selbst wirklich keine Probleme damit hätte, in der Andacht neben einer Schwarzen zu sitzen? Sie wusste es nicht. Natürlich half sie den Schwarzen, aber kannte sie einen von ihnen persönlich? Als Mensch? Gut, Mrs Reed, aber von der wusste sie auch nur, dass sie gern Blumen am Hut trug, ihren Eintopf mit vielen Zwiebeln und Chilis würzte und einen improvisierten Quilt genäht hatte. Doch gerade alltägliche Dinge wie diese machten einen Menschen aus.
    In den Wirren des Alltags verloren abstrakte Prinzipien ihre Kraft und Klarheit. Sie verwässerten. Honor verstand nicht, wie das geschehen konnte, und doch war es so. Die Haymakers hatten gezeigt, wie leicht man eine Rechtfertigung dafür fand, seine Überzeugungen zurückzustellen, statt anderen zu helfen. Und jetzt, wo sie ein Familienmitglied war, erwartete man von ihr, dass sie sich der Familientradition anschloss und ebenfalls gegen ihre Überzeugungen handelte.
    Als der Abend dämmerte, verließ Honor die Scheune und ging über den Hof zum Haus zurück. Ihre Augen brannten trocken, und ihr Hals fühlte sich an, als hätte sie einen Ball verschluckt, der ihr nun in der Kehle feststeckte. Die Kluft zwischen ihren Überzeugungen und dem, was man von ihr erwartete, war so gewaltig, dass es ihr den Atem raubte und sie kein Wort mehr herausbrachte. Vielleicht war es auch besser so, zumindest bis sie genau wusste, was sie sagen wollte. Wenn sie schwieg, konnten ihr die Worte wenigstens nicht im Mund verdreht und gegen sie verwendet werden. In der Andacht war die Stille ein Mittel, um den Weg zu Gott zu finden. Vielleicht ermöglichte die Stille nun, dass man Honor hörte.
    Die Haymakers wussten nicht, was sie von Honors Schweigen halten sollten. Als sie aus der Scheune zurückkam, hatten Judith und Jack sie ausgefragt, wo sie die ganze Nacht über gewesen sei. Der Pferdegeruch, der noch immer in ihren Kleidern hing, war der Beweis, dass Donovan irgendwie beteiligt gewesen sein musste. Honor sagte nichts. Sie verteidigte sich nicht und bestätigte die Vermutungen von Jack und Judith auch nicht, doch die Haymakers nahmen ihr Schweigen als Schuldeingeständnis. Jack tobte, und Judith drohte, dass sie Honor aus der Gemeinde verstoßen lassen würde, obwohl sie genau wusste, dass es

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