Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
Vom Netzwerk:
nicht glauben. Da fiel ihr der Quilt ins Auge. Mittlerweile kannte Honor die meisten amerikanischen Quiltarten. Auch wenn ihr die Farben und Muster nicht besonders gefielen, waren die Decken in der Regel sorgfältig gearbeitet. Es wurde immer der beste Stoff genommen, der zu haben war, selbst wenn es nur Flicken aus alten Kleidungsstücken waren. Die Muster waren wohl durchdacht und, egal ob sie einfach oder kompliziert waren, ordentlich ausgeführt.
    Mrs Reeds Quilt bestand aus unterschiedlichen Stoffflicken, die zu groben Blöcken in den Farben Blau, Grau, Beige und Braun und dem einen oder anderen gelben Streifen zusammengenäht waren. Die Stoffstücke waren aus abgetragener und verblichener Wolle oder Wollmischungen und aus Mänteln, Decken, Hemden und Petticoats herausgeschnitten worden. Quiltnähte sah man auf der Oberseite jedoch nicht; stattdessen wurde die Decke durch Knoten aus braunem Garn fixiert, die in der Mitte eines jeden Blocks herausragten – eine schnelle Methode, um die drei Schichten zusammenzuhalten. Honor drehte eine Ecke des Quilts um. Er war mit braunem Halbwollgewebe gefüttert, durch das sich dünne orangefarbene Streifen zogen. Sie fuhr mit der Hand über die Blöcke und zog zwei von ihnen straff, um die Nähte zu inspizieren. Sie waren gerade, wenn auch nicht übermäßig präzise.
    Was sie an dem Quilt am meisten beeindruckte, war dasselbe, was ihr schon im Vorgarten aufgefallen war. Die Verteilung der Farben wirkte willkürlich, und trotzdem ergab sich insgesamt ein harmonischer Eindruck. Das Grau ließ die reine Schönheit des Blaus erst richtig hervortreten, während das Blau dem Braun Tiefe gab und das Beige klar und hell wirken ließ. Eigentlich war die Kombination von Grau und Beige bei Quilterinnen verschrien, trotzdem wirkten die beiden Farben in dieser Decke so natürlich wie zwei nebeneinanderliegende Steine, während das gelegentlich aufblitzende Gelb die anderen Farben harmonisierte. Honor wurde das Gefühl nicht los, dass dem Quilt ein Muster zugrunde lag; doch so intensiv sie das Patchwork auch studierte, sie fand es nicht, es fiel immer wieder zu einzelnen Flicken auseinander. Neben Mrs Reeds farbenprächtigem, scheinbar willkürlich zusammengesetztem Quilt wirkten die von den Frauen Ohios bevorzugten rot-grünen Applikationen kindisch und Honors eigene, sorgfältig komponierte Patchworkmuster zu verkopft und kompliziert.
    Â»Das ist ein gutes Zeichen, wenn das Baby sich beruhigt, ohne dass es aufgenommen wird. Da werden Sie mit Ihrem eigenen auch gut klarkommen.« Mrs Reed lehnte am Türpfosten.
    Honor schreckte auf. Das Baby war tatsächlich still geworden und lag vor ihr, als hätte sie es auf dem Bauch liegend festgenäht. Honor blickte Mrs Reed an. »Dieser Quilt ist …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… bemerkenswert.«
    Mrs Reed schnaubte. »Er hält mich warm, das ist die Haupt sache.« Doch hinter der schroffen Bemerkung schien sich Freude zu verbergen. Sie befingerte einen braunen Flicken. »Der ist aus einem alten Mantel meines Mannes. Ich hab ihn getragen, als ich mit meiner Tochter weggelaufen bin. Er wollte uns nicht ohne Mantel gehen lassen und hat mir seinen gegeben, weil er wärmer war als meiner.«
    Â»Und wo ist Ihr Mann jetzt?«, fragte Honor und wünschte sich im selben Moment, sie hätte den Mund gehalten, denn Mrs Reeds Gesicht verschloss sich.
    Â»In Virginia, wenn er noch lebt. Er wollte später nachkommen, weil er meinte, allein hätten wir bessere Chancen. Aber die Flucht ist ihm nie gelungen.« Mrs Reed hob ihre Enkelin hoch. »Komm, mein Zuckerstück, jetzt gibt’s was zu essen. Wie wär’s mit Maisbrei mit etwas Sirup? Das magst du doch.« Das Baby jauchzte, die Tränen waren vergessen, und es griff nach Mrs Reeds Brille.
    Â»Hör auf damit, du kleines Äffchen.« Mrs Reed trug das Kind in die Küche.
    Honor berührte den braunen Streifen, bevor sie Mrs Reed in die Küche folgte. Die alte Frau stand wieder am Herd. Das Baby hatte sie sich über die Schulter gelegt und tätschelte ihm mit der einen Hand beruhigend den Rücken, während sie mit der anderen in einem Topf mit Brei rührte. Jetzt, wo es sich auf dem sicheren Arm der Großmutter befand, wirkte das Baby nicht mehr ängstlich, sondern starrte die weiße Frau aus großen Augen an. Honor fragte sich, ob es ihre

Weitere Kostenlose Bücher