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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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zu sein.
    Ich kann einfach nicht glauben, dass Grace erst seit ein paar Tagen tot ist. Manchmal kommt es mir vor, als wollten Zeit und Raum mich zum Narren halten: Die Seereise schien mir Jahre zu dauern, obwohl sie nur einen Monat lang war, während Hudson – der Ort, in dem Grace begraben liegt – schon Ewigkeiten hinter mir zu liegen scheint, dabei bin ich erst seit drei Tagen in Wellington. Für einen Menschen, dessen Leben bisher immer in völlig geordneten Bahnen und ohne große Überraschungen verlief, habe ich in kurzer Zeit sehr viel erlebt. Und Überraschungen stehen mir in Amerika vermutlich noch einige bevor.
    Was mich schon jetzt verwirrt, sind die Amerikaner selbst: Sie sind völlig anders als wir Engländer! Lauter, zum Beispiel, außerdem sagen sie einem auf eine Weise die Meinung, die ich nicht gewohnt bin. Obwohl hier alle wissen, was Quäker sind, finden die Leute mich seltsam. Die Kundinnen in Belles Laden haben mir das ziemlich unverblümt unter die Nase gerieben, und zwar in einem unangenehm vertrauensseligen Tonfall. Du weißt, dass ich eher schweigsam bin; in Amerika bin ich noch stiller geworden.
    Doch obwohl die Leute hier fast ununterbrochen reden, scheinen sie trotzdem ihre Geheimnisse zu haben. Ich bin mir zum Beispiel fast sicher, dass sich, während ich diese Zeilen schreibe, keine zehn Meter von mir entfernt ein entflohener Sklave versteckt. Außerdem glaube ich allmählich, dass er in dem Wagen verborgen war, mit dem ich nach Wellington gekommen bin, aber ich traue mich nicht, mehr in Erfahrung zu bringen. Es gibt hier nämlich Männer, die hinter den Sklaven her sind, und Du weißt, dass ich nicht lügen kann, wenn ich etwas gefragt werde. Zu Hause war es leicht, immer offen und ehrlich zu bleiben. Es gab fast nie etwas, das ich vor Dir oder meiner Familie hätte verbergen müssen, nur über die Sache mit Samuel mochte ich nicht gern reden. Doch jetzt muss ich immer aufpassen, was ich sage. Ich will nicht lügen, niemals, aber hier in Amerika fällt es mir viel schwerer, mich an diesen Vorsatz zu halten.
    Wenigstens Dir, meine liebe Freundin, kann ich alles anvertrauen. Morgen wird Adam Cox kommen, und ich gestehe, dass mich das ziemlich nervös macht. Er ist in der Hoffnung nach Ohio aufgebrochen, dass ihm seine zukünftige Frau dorthin folgen wird, doch nun hat er statt Grace nur mich am Hals. Natürlich kenne ich ihn und Matthew, seit die Familie Cox nach Bridport gezogen ist, aber mittlerweile sind sie älter geworden, und besonders nahe standen sie mir ohnehin nie. Trotzdem werden sie jetzt die einzigen vertrauten Gesichter unter lauter Fremden sein.
    Bitte erzähle meinen Eltern nichts von dem, was ich Dir heute schreibe, denn ich will nicht, dass sie sich Sorgen um mich machen. Ich denke, es ist nicht unehrlich, wenn ich ihnen meine Gefühle vorenthalte – es sind schließlich keine Tatsachen, außerdem ändern sie sich bestimmt noch. In meinem nächsten Brief kann ich Dir hoffentlich schreiben, dass ich mich in Faithwell gut eingelebt habe und mich wohl fühle. Behalte mich bis dahin, liebe Biddy, in Deinen Gedanken und Gebeten.
    Deine treue Freundin,
Honor Bright

Stille
    Am Sonntag wurde Honor schon früh wach. Adam Cox, der vormittags noch in Faithwell die Andacht besuchen wollte, würde zwar erst am Nachmittag kommen, doch Honor war so aufgeregt, dass sie schlaflos im Bett lag. Sie lauschte dem Morgengesang der unbekannten amerikanischen Vögel, fuhr mit den Fingern die Umrisse des »Stern von Bethlehem« auf ihrem Quilt entlang und wartete auf das, was da kommen würde.
    Obwohl sie sich den Großteil der Nacht mit einer Flasche Whiskey um die Ohren geschlagen hatte, war auch Belle an diesem Tag früh auf den Beinen. Zum Frühstück gab es wie immer Eier mit Speck und Maisgrütze, den dünnen weißen Brei, den Belle seit ihrer Kindheit in Kentucky jeden Morgen verzehrte. Während sie aßen, fragte sich Honor, ob die Putzmacherin einer Kirche angehörte und zum Gottesdienst ging. Belle machte jedoch keine Anstalten aufzubrechen, sondern setzte sich, nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte, auf die hintere Veranda hinaus, um den Cleveland Plain Dealer zu lesen. Eine Kundin hatte die Zeitung am Vortag im Laden vergessen. Honor zögerte einen Moment, dann holte sie ihre Bibel und setzte sich zu Belle.
    In dem Moment, als Honor sich neben Belle niederließ,

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