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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Den letzten Namen erkannte Honor sogar wieder, denn so hießen die Bauern, bei denen sie Milch gekauft hatten. Judith Haymaker war die Frau mit dem beeindruckenden Gesicht auf der Ältestenbank gewesen. Jetzt, nach dem Ende der Andacht, war ihr Gesichtsausdruck nicht mehr ganz so konzentriert, doch dem Blick aus ihren blassblauen Augen hielt Honor trotzdem kaum zwei Sekunden lang stand. Neben der Frau stand deren Tochter, Dorcas, die ungefähr in Honors Alter war. Als Honor ihr vorgestellt wurde, lächelte Dorcas brav, schien aber weiter kein Interesse an ihr als möglicher Freundin zu haben. So erging es Honor mit allen Menschen in Faithwell; sie waren höflich, doch niemand zeigte ernsthaftes Interesse oder fragte sie etwas. Nicht, dass Honor sich das gewünscht hätte – sie war keinesfalls begierig, die Geschichte vom Tod ihrer Schwester immer wieder neu zu erzählen –, doch dass sich die Bewohner Faithwells anscheinend nur für ihre eigenen Angelegenheiten interessierten, fiel ihr trotzdem unangenehm auf.
    Judith Haymaker nickte in Richtung eines jungen Mannes, der bei den anderen Männern stand. »Mein Sohn Jack.« Als hätte er aus der Ferne seinen Namen gehört, schaute Jack zu ihnen herüber und bedachte Honor mit einem Blick, wie ihn ihr bislang kein anderer Mann zugeworfen hatte. In seinen braunen Locken leuchteten blonde Strähnen auf, und das angedeutete Lächeln glich dem seiner Mutter, nur dass es in seinem Gesicht deutlich wärmer wirkte.
    Honors Herz machte einen Satz, und sie blickte schnell weg, begegnete dafür aber den blassblauen Augen von Dorcas Haymaker. Dorcas hatte nicht den familientypischen lächelnden Zug um den Mund; ihr Gesicht wurde von einer forschen Karottennase und einer gerunzelten Stirn geprägt, die Honor an Abigail erinnerte. Sie blickte zu Boden. Ob alle Amerikanerinnen so wortkarg und zurückhaltend waren?
    Nein! Im Stillen dankte Honor dem Herrn für Belle Mills.

Faithwell, Ohio
    14. des 6. Monats 1850
    Liebste Biddy,
    diesen Brief schreibe ich auf der Eingangsveranda des Hauses von Adam und Abigail in Faithwell. Die Veranden sind ein besonderer Vorzug der amerikanischen Häuser, denn man kann dort sitzen und die wenigen kühlen Luftzüge draußen genießen, ohne der Sonne direkt ausgesetzt zu sein. Die Hitze hier übertrifft alles, was ich in Dorset jemals erlebt habe, und man hat mir angekündigt, dass es im nächsten Monat noch schlimmer werden wird. Die Hitze allein ist es aber nicht, die einem so zusetzt; hinzu kommt, dass es ständig schwül ist, sodass man das Gefühl hat, in einer Dampfwolke zu leben. Mein Kleid ist ständig feucht, meine Haare kräuseln sich, und manchmal kann ich kaum noch richtig atmen. Da fällt es schwer, Energie zum Arbeiten aufzubringen. Ach, Biddy, könntest Du doch nur neben mir sitzen und mit mir plaudern, lachen und nähen, das würde mir diesen fremden Ort erträglicher machen. Auch wenn Grace noch lebte und bei mir wäre, ginge es mir sicher besser. Zusammen wäre uns das Leben hier als das Abenteuer erschienen, das mit der Schiffsreise nach Amerika begann, doch ohne sie kommt mir alles wie eine Prüfung vor. Wie gerne würde ich Dir schreiben, dass ich mich gut hier in Ohio eingelebt habe. Ich weiß, dass Du mir genau das wünschst, und ich selbst wünsche es mir auch, doch ich gestehe, dass ich auf der Stelle ein Billet für die Postkutsche von Cleveland in Richtung Osten kaufen würde, wenn ich nicht wüsste, dass mir danach die unmögliche Seereise bevorstünde. Sonst gibt es wenig, das mich hier hält.
    Ich will nicht undankbar klingen. Adam Cox ist sehr gastfreundlich, auch wenn er sich darüber ausschweigt, welchen Platz ich ohne Grace als natürliches Verbindungsglied in seinem Haushalt einnehmen soll. Vielleicht weiß er selbst nicht, was er von der Situation halten soll, dafür scheint Abigail es sehr genau zu wissen.
    Doch ich muss fair bleiben. Auch Abigail hat mich freundlich begrüßt – auf ihre Art. Als ich ankam, hat sie die Arme um mich geworfen, wie Amerikanerinnen es gerne tun; ich stand stocksteif da und traute mich nicht zu zucken. Dann ist sie in Tränen ausgebrochen und hat gesagt, wie leid ihr das mit Grace tue und wie sehr sie hoffe, mir die Schwester ersetzen zu können. Doch seither hat sie sich nicht gerade wie eine Schwester verhalten. Manchmal bemerke ich sogar, wie sie

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