Die englische Freundin
über den trocknenden Schlamm zu ziehen. Doch ihnen blieb keine andere Wahl, schlieÃlich konnte Dorcas nicht nackt nach Hause laufen.
Während sie durch den Wald stapften, sprachen sie kein Wort miteinander. Honor holte die Eimer mit den Brombeeren, die sie am Waldrand stehen gelassen hatten und über denen immer noch Wespen kreisten. Von dem Mann war nichts mehr zu sehen. Dorcas hatte ihn mit keinem Wort erwähnt, und Honor hoffte, dass sie zu aufgelöst gewesen war, um ihn zu bemerken.
Als sie auf den Hof kamen, heulte Dorcas wieder laut los. Ihre Mutter kam sofort herbeigeeilt. Judith wies ihre Tochter an, ein kaltes Bad zu nehmen, und strich ihr anschlieÃend eine Paste aus Backnatron und Wasser auf die Stiche; es waren insgesamt neunzehn. Als Jack am Abend ins Haus trat, überfiel ihn Dorcas gleich mit der Geschichte des Wespenangriffs, auÃerdem erfuhr es jeder Kunde, der in den nächsten Tagen zum Milchkaufen kam. Wenn sie ihr Abenteuer vom Kampf mit den Wespen zum Besten gab, waren Tränen, Schmerzen und Scham vergessen. Honor tauchte in dieser Geschichte ebenfalls nicht auf, auÃerdem war Dorcas nicht mehr freundlich zu ihr; doch solange ihre Schwägerin den Schwarzen nicht erwähnte, war Honor alles andere egal.
Bei ihrer nächsten Begegnung mit Mrs Reed hatte Honor das Gefühl, dass die ältere Dame schon auf sie gewartet hatte. Die Haymakers waren in die Stadt gefahren, um noch mehr Einmachgläser für das letzte Gartengemüse zu kaufen. Honor war mitgekommen und schaute zunächst auf einen Besuch im Kurzwarenladen vorbei. Bevor sie sich wieder mit ihrer Familie traf, machte sie noch einen Spaziergang über den College-Platz. Die Blätter der Ulmen wurden an den Rändern bereits gelb. Als Honor in ihrem Schatten dahinging, hörte sie plötzlich eine leise Stimme neben sich: »Es war töricht, ihn mir einfach vorbeizuschicken. Und ihm noch dazu meinen Namen zu nennen. Sie dummes Mädchen, mir das einfach unterzuschieben!«
Honor schaute sich um. Als Erstes fielen ihr strahlend gelbe Blüten und farnartige Blätter an einer Hutkrempe auf. Sie kannte die Blumen: Gänsefingerkraut. Ihre Mutter hatte es immer gesammelt und als Tee aufgebrüht, wenn sie als Kinder Halsschmerzen hatten. Der würzige Duft stieg ihr in die Nase; Mrs Reed schien die Blumen erst vor ein paar Minuten gepflückt zu haben.
Die kleine Frau presste die Lippen fest zusammen, Falten standen um ihren empörten Mund. »Gehen Sie weiter«, befahl sie schlieÃlich. »Sonst fragen sich die Leute noch, warum Sie hier rumstehen wie ein dämliches Maultier. Kommen Sie schon.« Mrs Reed marschierte im Eilschritt über den mit Holzplanken ausgelegten Weg und nickte den schwarzen Passanten und manchmal auch einem WeiÃen zu. Honor raffte ihren Rock, damit er nicht in einem der Nägel, die aus der Planke hervorstanden, hängen blieb. Sie hoffte, dass die Haymakers noch mit den Einweckgläsern beschäftigt waren und sie nicht sahen, denn sie hätte nicht gewusst, wie sie ihnen ihren Spaziergang mit Mrs Reed erklären sollte.
»Er hätte die falsche Person nach mir fragen können, und dann hätte ich richtig Ãrger bekommen«, fuhr Mrs Reed fort. »In Oberlin sind viele auf unserer Seite, aber längst nicht alle, und man weià nie, mit wem man es gerade zu tun hat. Man kann nie vorsichtig genug sein. Beim nächsten Mal sagen Sie den Flüchtlingen, sie sollen nach einer Kerze im hinteren Fenster des roten Hauses in der Mill Street Ausschau halten. Sie ist das Zeichen, dass die Luft rein ist und sie ins Haus kommen können. Wenn sich das Signal ändert, lasse ich Sie das wissen.« Mrs Reed marschierte noch schneller, und Honor hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten.
»Normalerweise sind die Flüchtlinge vor allem im Frühjahr unterwegs. Im Winter ist es zu kalt, und im Sommer schuften sie auf den Feldern und werden dabei ständig bewacht. Doch diesen Herbst wird es einen groÃen Flüchtlingsstrom geben, sie rechnen nämlich alle damit, dass das neue Sklavengesetz, das Fugitive Slave Law, durchkommt. Selbst Leute, die sich im Norden sicher gefühlt haben, überlegen es sich noch einmal und ziehen weiter nach Kanada. Auch in Oberlin schauen sich die ersten Farbigen schon misstrauisch um, ich aber nicht. Ich bleib, wo ich bin, so viel steht fest. Ich bin aus dem Alter raus, wo man ständig durch die
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