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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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einem Flüchtling helfen oder uns ans Gesetz halten sollen.«
    Honor verknotete den Faden, zog ihn an und biss das Ende ab.
    Als Honor am nächsten Morgen ins Hühnerhaus ging, um die Eier einzusammeln, waren es zwei weniger als sonst, und die Hennen, die normalerweise wie am Schnürchen legten, wirkten unruhig. Sosehr sie es hasste zu lügen, erzählte sie Judith, sie wäre auf zwei Eier getreten und hätte sie zerbrochen, doch vermutlich glaubte ihr die Schwiegermutter ohnehin nicht.
    Später nahm sich Honor eine Scheibe vom Maisbrot, bestrich es mit Butter und wickelte es in ein Tuch. Das Päckchen versteckte sie unter einer Kiste, die sie aus dem Wagenschuppen geholt hatte. Auf die Kiste legte sie einen Stein, der sie beschwerte und gleichzeitig als Signal diente, dass unter der Kiste etwas versteckt lag. Es war riskant, denn natürlich könnten auch die Haymakers die Kiste entdecken oder Donovan, wenn er in der Gegend herumschnüffelte. Als Honor am nächsten Morgen Eier holen ging, war das Maisbrot verschwunden, und das Tuch lag ordentlich gefaltet unter der Kiste. Am Abend legte sie ein paar Stücke Schinkenspeck darunter, die am anderen Morgen aber immer noch dalagen und von Ameisen übersät waren. Vermutlich hielten die Flüchtlinge sich nie länger an einem Ort auf, da dann die Gefahr zu groß war, entdeckt zu werden.
    Honor begann auf Zeichen zu achten, die auf Flüchtlinge hindeuteten: wenn es im Wald raschelte, Digger in der Nacht zu bellen begann oder die Kühe im Stall unruhig wurden. Sie begann zu spüren, wenn sich jemand in der Nähe des Hofes aufhielt. Es war, als trüge sie ein Barometer in sich, das jede Veränderung in der Umgebung registrierte wie den zunehmenden Luftdruck vor einem Gewitter. Die Atmosphäre veränderte sich so deutlich, dass Honor sich fragte, warum es außer ihr niemand wahrzunehmen schien. Für Honor ging von Menschen eine Art kalte Hitze aus; vielleicht strahlte aus ihnen ja das, was Freunde das Innere Licht nannten.
    Oft sah sie die entlaufenen Sklaven nicht einmal, sondern wusste erst sicher, dass sie da waren, wenn die von ihr versteckten Lebensmittel verschwanden. Jedes Mal, wenn sie etwas nach draußen gebracht hatte, rechnete sie bange damit, dass die Haymakers die Kiste fanden und ihr Vorwürfe machten. Aber normalerweise ging niemand hinters Hühnerhaus, es sei denn, ein Huhn war ausgebrochen oder Jack machte mit der Hacke Jagd auf Schlangen, die in den Erdlöchern wohnten und Eier klauten. Normalerweise kündigte Jack seine Schlangenjagden aber an, sodass Honor die Kiste vorher verstecken konnte. Es überraschte und beschämte sie, dass sie sich so schnell ans Stehlen und Verheimlichen gewöhnte. Eigentlich war das überhaupt nicht ihre Art, außerdem verletzte sie damit die Prinzipien der Ehrlichkeit und Offenheit. Doch seit sie in Amerika lebte, fand Honor es zunehmend schwerer, nicht zu lügen und nichts zu verheimlichen. In England war ihr Leben immer einfach und ehrlich gewesen; selbst als Samuel sie verlassen hatte, war sie offen mit ihrem Herzeleid umgegangen und hatte die Familie und die Gemeinde daran teilnehmen lassen. Doch bei den Haymakers hatte sie immer das Gefühl, dass es besser war, zu schweigen und eine möglichst gleichgültige Miene zur Schau zu tragen, um keinen Streit mit ihrer neuen Familie zu riskieren.
    Doch bei aller Zurückhaltung und der Einsicht, dass sie diejenige war, die sich an die Haymakers anpassen musste, konnte Honor deren Einstellung zur Sklavenhaltung und zu Sklavenflüchtlingen nicht akzeptieren. Sie hielt ihre Augen und Ohren offen, und wenn sie spürte, dass ein Entlaufener in der Nähe war, versuchte sie ihm so zu helfen, dass niemand etwas davon merkte. Es durfte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass sie sich den Regeln der Familie ihres Ehemanns widersetzte – obwohl sie es insgeheim natürlich tat.
    Doch es war nicht leicht, ihre Aktivitäten zu verbergen. Weil ein Bauernhof wie der der Haymakers von allen Bewohnern gemeinsam bewirtschaftet wurde, war Honor fast nie allein. Wenn sie im Garten arbeitete, was sie oft tat, da die Gartenarbeit ihr vertrauter war als die anderen Aufgaben auf dem Hof, waren Judith oder Dorcas fast immer in der Nähe. Entweder sah Honor sie durchs Fenster, oder sie kamen nach draußen, um Teppiche auszuklopfen, auf der hinteren Veranda Butter zu rühren oder Wäsche auf die

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