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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Judith rechnen. Sie versuchen abzuschätzen, wie lange uns unsere Vorräte noch reichen werden. Gestern hat Judith zum Abendessen ein paar Steaks herausgeholt, doch dann hat sie eines vor dem Braten wieder zurückgelegt. Diese kleine Geste hat mich beunruhigt, obwohl die Steaks beim Abendessen gut gereicht haben und wir alle satt geworden sind. Ich muss mich darauf verlassen, dass die Haymakers uns gut durch den Winter bringen werden. Vermutlich werde ich eines Tages genauso zufrieden und sorglos wie Dorcas sein, die ihren gesunden Appetit noch nicht verloren hat. Allerdings hat sie mir gegenüber zugegeben, dass sie die ersten Winter nach ihrem Umzug aus North Carolina auch fürchterlich bedrohlich fand.
    Ich vermisse frische Lebensmittel. Bis auf ein paar Äpfel, Kartoffeln und Karotten essen wir jetzt nur noch Eingemachtes oder Getrocknetes. Doch einen wunderbaren neuen Leckerbissen habe ich kennengelernt: Jack hat eine Kelle getrockneter Maiskörner ins Feuer gehalten, die dann zu weißen Blüten aufgeplatzt sind. Sie nennen es »Popcorn«, und ich habe noch nie etwas so Schmackhaftes gegessen. Jack hat sich über meine Begeisterung so gefreut, dass er an drei Abenden hintereinander Popcorn gemacht hat, bis Judith anfing zu schimpfen.
    Wie ich Dir schon geschrieben habe, helfe ich jeden Morgen und Abend beim Melken. Es fällt mir jetzt viel leichter, und die Kühe akzeptieren mich – und ich sie. Früher haben sie für mich alle gleich ausgesehen, Viecher, die auf der Wiese stehen und Gras fressen; aber jetzt weiß ich, dass jede einen eigenen Charakter hat, genau wie wir Menschen. Es dauerte ein paar Wochen, bis sie akzeptiert hatten, dass sie nun von neuen Händen berührt werden. Wie Pferde und Hunde spüren sie schnell, wenn jemand unsicher ist, und wenn man sie lässt, nutzen sie das aus. Ich habe gelernt, mich bei ihnen durchzusetzen, und jetzt sind sie sehr brav. Du würdest lächeln, wenn Du meine Arme sehen würdest, denn ich habe richtig Muskeln bekommen. Meine Unterarme sind fast so dick wie meine Oberarme, und meine Schultern hängen nicht mehr herab wie früher. Eigentlich sollten mir solche Dinge egal sein, doch ich finde, dass mein Körper irgendwie seltsam aussieht. Jack macht es nichts aus – er ist Melkerinnenarme gewohnt.
    Nach dem Melken frühstücken wir, danach räume ich die Küche auf, und Judith und Dorcas machen aus der Morgenmilch Butter und Käse. Wenn ich in der Küche fertig bin, bereite ich einen halben Scheffel Mais für die Pferde vor, wozu ich die getrockneten Maiskörner von den Kolben streifen muss. Es ist die Arbeit, die ich am meisten hasse, weil meine Daumen dabei bald zu schmerzen beginnen. Meine Daumenballen sind schon stark angeschwollen, und ein Netz aus Narben zieht sich über meine Daumenspitzen. Eines Tages wirst Du mich nicht mehr wiedererkennen! Manchmal kommt es mir so fürchterlich sinnlos vor, den Mais abzustreifen, nur damit er gefressen wird und ich am nächsten und übernächsten Morgen dieselbe Prozedur von vorn beginnen muss. Wenn das Vieh im Winter die ganze Zeit im Stall eingesperrt ist und nichts anderes zu tun hat, als zu fressen, zu verdauen und alles um sich herum schmutzig zu machen, kommen mir die Tiere wie Maschinen vor. Ich werde mich sicher genauso freuen wie die Pferde und Kühe, wenn der Frühling kommt und sie wieder nach draußen auf die Weide können.
    Wenn wir mit der Morgenarbeit fertig sind, bereitet Judith das Essen vor, während Dorcas und ich am Ofen sitzen und nähen oder stricken. Im Moment arbeite ich an meinem zweiten rot-weißen Applikationsquilt für Dorcas. Ich konnte sie nicht überreden, mich ein Patchwork machen zu lassen, aber mittlerweile macht mir das Applizieren auch nicht mehr so viel aus. Gerade in den grauen Wintermonaten habe ich begonnen, mich mit der schlichten Heiterkeit dieser Decken anzufreunden. Doch ich komme nur langsam voran: die Kälte, die abgestandene Luft im Haus und das ewige Gleichmaß der Tage machen mich allmählich begriffsstutzig, und ich verliere meinen alten Eifer, schnell fertig zu werden. Mir unterlaufen mehr Fehler, und dann muss ich alles wieder auftrennen. Als wir im Herbst so viel zu tun hatten, habe ich mehr geschafft als im Moment. Außerdem ist es anstrengend, die ganze Zeit so eng zusammengepfercht zu sein; manchmal werde ich richtig missmutig und verdrossen. Ich habe das

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