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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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aber nichts tun.
    Am Nachmittag traf dann die Nachricht ein, dass bei einer Freundin in Faithwell die Wehen eingesetzt hatten. Judith wurde um Hilfe gebeten. Dorcas begleitete ihre Mutter, doch Honor blieb daheim, weil sie Jack abends beim Melken helfen wollte. Wenn seine Mutter nicht da war, vergaß Jack seine Ernsthaftigkeit und wurde richtig ausgelassen. Er setzte sich mit Honor an dieselbe Kuh und bespritzte sie beim Melken mit Milch, bis Honor ihn lachend bat, aufzuhören.
    Ein paar Minuten lang arbeiteten sie schweigend weiter. Honor lehnte sich gegen die warme Kuhflanke und dachte an den Flüchtling im Wald. »Eine Geburt«, sagte Jack schließlich auf seiner Seite der Kuh, »sicher sind wir auch bald dran.« Er packte Honors Hand und drückte sie in den feuchten Euter der Kuh. »Wir könnten gleich anfangen. Oben im Heu haben wir ein schönes Bett.«
    Â»Nach dem Melken«, wandte Honor lächelnd ein.
    Doch noch bevor sie mit Melken fertig waren, kam jemand auf den Hof, um Jack zu holen. Er sollte schnell zum Arzt nach Oberlin reiten, weil die Gebärende Blutungen bekommen hatte. Als Jack vorschlug, Honor unterwegs bei Adam und Abigail abzusetzen, damit sie nicht so lange allein war, versicherte Honor ihm, dass ihr das Alleinsein nichts ausmache. »Außerdem habe ich doch Digger«, erinnerte sie ihn. »Einer muss die Kühe melken, und danach gibt es auch noch genug zu tun.« Der Hund zeigte sich ihr gegenüber zwar immer noch misstrauisch, würde sie im Notfall aber sicher verteidigen.
    Sobald Jack verschwunden war, sperrte Honor Digger ins Haus und lief mit einer Laterne zum Waldrand, wo sie das Licht hochhielt und ins dunkle Baumdickicht leuchtete. »Kommen Sie raus!«, rief sie mit klopfendem Herzen. »Ich zeige Ihnen ein Versteck.« Obwohl ihr die Dringlichkeit der Situation ein wenig die Angst vorm Wald nahm, konnte sie sich immer noch nicht überwinden, zwischen die Bäume zu treten.
    Zum Glück musste sie das auch nicht, denn im nächsten Moment trat eine Frau aus ein paar eng beieinanderstehenden Ahornbäumen in den Lichtkranz der Laterne hinein. Sie trug eine Haube und einen Schal, schlotterte aber trotzdem vor Kälte. Als Honor sie durch den Obstgarten zur Scheune führte, drang aus dem Haus Diggers gedämpftes Wutgebell. Doch Honor hörte noch ein anderes Geräusch: den Hufschlag von Donovans Pferd, das sich über den Fahrweg von Faithwell her näherte.
    Honor blies die Laterne aus. Sie hoffte, dass die Frau ihr folgen würde, und rannte los. Statt zu dem schweren Scheunentor, das sie zusammen mit Jack für die Nacht geschlossen hatte, lief Honor zu einer kleineren Tür in der Seitenwand der Scheune, die dort für den Fall eines Feuers als Notausgang eingebaut war. Wenn sie durchs große Scheunentor gingen, könnte Donovan sie hören, und dann würde er sofort entdecken, dass kein Riegel vorgeschoben war.
    Im Inneren der Scheune war es so dunkel, dass Honor die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Zeit zum Nachdenken blieb ihr nicht. Sie packte die Frau beim Arm und zog sie, über Heuballen stolpernd, zu dem Strohhaufen in der Ecke, in den sie sich eingruben und warteten. Sie hörten, wie Dono van auf den Hof geritten kam, vom Pferd sprang und dann die verschiedenen Gebäude inspizierte: Erst gackerten die aufgebrachten Hühner im Hühnerhaus; dann quietschte die Tür zum Wagenschuppen, und als Nächstes schlug die Tür des Klohäuschens zu. Schließlich wurde es still. Auch sie durften jetzt keinen Laut von sich geben.
    Scheinbar war Honor endlich einer Person begegnet, die genauso stillhalten konnte wie sie.
    Insgeheim war Honor immer stolz darauf gewesen, wie lange sie in der Andacht völlig bewegungslos dasitzen konnte. Wenn sie Platz genommen hatte, stellte sie die Füße fest auf den Boden, drückte die Beine zusammen und faltete die Hände im Schoß. In dieser Position konnte sie zwei Stunden lang verharren. Überall um sie herum rutschten Männer und Frauen auf ihren Plätzen hin und her, um schmerzende Beine und Hinterbacken zu entlasten. Sie kreisten mit den Schultern, kratzten sich am Kopf, husteten und falteten die Hände auf und zu. Jack war besonders schlimm. Wenn er sich, was selten genug vorkam, vom Platz erhob, um zu sprechen, hatte Honor immer den Verdacht, dass er nicht unbedingt den Drang verspürte, Zeugnis abzulegen, sondern sich einfach

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