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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Gefühl, in der Falle zu sitzen oder in diesem Haus eingefroren zu sein – zusammen mit einer Familie, der ich mich immer noch nicht zugehörig fühle.
    Ich vermisse die Wiesen Dorsets, die den ganzen Winter über grün bleiben. Früher habe ich sie nie geschätzt; erst jetzt, wo mir noch viele braune, graue und weiße Monate bevorstehen, weiß ich, was ich an ihnen hatte. Mittlerweile kommt es mir so vor, als sei der überwältigende Farbenrausch des Herbstlaubs, all die vielen Rot- und Orangetöne, ein letztes Geschenk Gottes gewesen, damit wir die eintönigen Wintermonate besser ertragen.
    Andere Menschen sehen wir fast nie, denn alle sitzen in ih ren Häusern und warten auf das Ende des Winters. Nur manchmal trotzt jemand der Kälte und dem Schnee und kommt vorbei, um Milch oder Käse zu kaufen. Einmal hat uns die Putzmacherin Belle Mills besucht – in einem Schlitten! Erinnerst Du Dich noch an den Papagei, den einmal ein Matrose nach Bridport mitgebracht hat? Genauso war es, als Belle hier in Faithwell vorfuhr – Du musst Dir nur den Anblick ihrer grellbunten Federn vor all dem Schnee vorstellen! Judith und Dorcas haben nicht ein Wort gesagt, aber ich habe mich so gefreut, Belle zu sehen, dass mir die Tränen gekommen sind. Belle hat natürlich gleich angefangen zu spotten, dass ich jedes Mal zu heulen anfange, wenn sie mich sieht. Sie ist meine einzige richtige Freundin hier in Ohio, und unser Verhältnis kommt dem nahe, was wir beide miteinander haben – auch wenn sie sich so sehr von Dir unterscheidet wie ein amerikanisches Rotkehlchen von einem englischen. Die Rotkehlchen hier sind riesig, haben strahlend rote Brüste und sind ziemlich frech, vor allem im Vergleich zu den zarten kleinen Vögeln, die Du kennst.
    Belle hat mir einen wunderschönen hellbraunen Seidenstoff mitgebracht, den ich für einen Quilt verwenden will, sobald ich mit dem für Dorcas fertig bin. Im Frühling, wenn alles zu neuem Leben erwacht, werde ich endlich wieder etwas nähen können, das mir gefällt.
    Deine treue Freundin,
Honor Haymaker

Zuckerbäume
    Tauwetter. Honor kam es vor, als würde sich die Faust, die sich um sie und die ganze Welt geschlossen hatte, plötzlich wieder öffnen und sie freigeben. Es war verblüffend, wie schnell sich die Kälte, die so lange ihr Leben beherrscht hatte, zurückzog. Eines Tages wachte Honor auf und spürte, dass die Luft sich verändert hatte. Es herrschte immer noch Frost, doch er hatte seinen eisigen Biss verloren.
    Der Quilt, den Honor den Winter über für Dorcas genäht hatte, war fast fertig. Honor hatte beschlossen, ihn allein zu quilten, anstatt es von mehreren Näherinnen bei einem Quiltkränzchen machen zu lassen. Die Essensvorräte gingen langsam zur Neige, das Frühjahr war einfach nicht die richtige Zeit für so eine Einladung. Honor saß über den kleinen ovalen Rahmen gebeugt, in den sie den Stoff gespannt hatte, damit sie mit der Nadel leichter hindurchkam. Sie saß da wie immer, doch ihr Körper fühlte sich anders an: Er versteifte sich nicht mehr gegen die Kälte. Im nächsten Moment lachte Dorcas über etwas, das Judith gesagt hatte – den ganzen Winter lang hatte Honor sie nicht lachen hören. Da wusste sie, dass auch die anderen die Veränderung spürten.
    Als sie in der Nacht an Jacks warmen Rücken gekuschelt lag und einer weiteren Veränderung tief in ihrem Inneren nachspürte, hörte Honor, wie es draußen zu tropfen begann. Es war ein Geräusch voller Verheißung. Innerhalb eines Tages verwandelte sich die Fahrspur nach Faithwell in einen tiefen, zähen Morast, der fast genauso unwegsam war wie der Schnee. Als sie zur Andacht gehen wollten, blieb Honor bis zu den Knien im Matsch stecken. Jack, Dorcas und Judith zogen sie mit vereinten Kräften wieder heraus, doch dabei verlor Honor einen Stiefel. Jack musste einen Spaten holen und ihn ausgraben.
    Am Tag darauf bohrte Jack einige Ahornbäume im Wielandwald an, um ihnen Saft für die Herstellung von Sirup abzuzapfen. Nach frischem Mais vom Kolben war Ahornsirup Honors zweitliebste amerikanische Spezialität. Niemals hätte sie gedacht, dass etwas so süß und gleichzeitig erdig und harzig schmecken konnte. Es war schwierig, ihrer Familie in England diesen ganz eigenen Geschmack zu beschreiben, deshalb hätte Honor am liebsten eine Kostprobe im Brief

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