Die Enklave
dass Jengu meinen gesamten Besitz in Augenschein nehmen konnte. Die wenigen Glitzersachen, die ich über die ganzen Jahre behalten hatte, funkelten im Schein der Flammen. Jengu bückte sich. Eine kleine, bläulich schimmernde Dose schien es ihm angetan zu haben. Ich zeigte ihm, wie man sie öffnet. In ihrem Deckel befand sich ein kleiner Spiegel, der sogar noch ganz war. Außerdem verströmte das kleine Ding einen angenehmen Duft. Ich hatte keine Ahnung, wozu es in den alten Tagen einmal gut gewesen sein mochte, aber ich klappte es gerne auf, um in dem Spiegel meine Augen zu betrachten. Es war der einzige Gegenstand, den meine Erzeugerin an mich weitergegeben hatte, ein Familienschatz
sozusagen. Ich besaß ihn schon so lange, wie ich denken konnte.
Seine Finger schlossen sich um das blaue Ding. »Da’ da. Fü’ das zeig ich’s eu’.«
Na klar. Ich verspürte einen kleinen Stich. Aber ich wusste, dass der Preis bezahlt werden musste. »Abgemacht. Ist es weit?«
»’weimal schlafn.«
»Können wir uns im Lagerraum ausruhen, bevor wir aufbrechen? «
»’ede Menge Platz, jetz’.«
Er machte sich nicht die Mühe, uns hinzuführen, und ich hatte die Schritte ohnehin gezählt. Diesmal war die Plattform halb leer. Die Jäger hatten eine Menge Zeug für den Worthüter mitgenommen. Er dürfte eine Zeit lang damit beschäftigt sein, alles aufzuschreiben.
Wenn ich es schaffte, mich langsam, Stück für Stück an die neue Situation zu gewöhnen, würde die Angst vor dem Unbekannten mich nicht überrollen. Vielleicht verstand Bleich, wie ich mich fühlte. Wir legten uns schlafen, ohne darüber zu reden, was in der Zukunft auf uns wartete.
Nachdem wir erwacht waren, aßen wir unseren letzten Proviant. Dann kam Jengu, um uns zu holen. Er führte uns in den Hauptbereich und dann in einen neuen Tunnel. Ich zählte die Schritte, aber bei den vielen Ecken und Biegungen verlor ich bald den Überblick. Ich bezweifelte, dass ich den Weg zurück finden würde.
Der Tunnel war kalt und feucht, und es stank. Jengu hatte eine kleine Fackel dabei, woraus ich schloss, dass es hier zumindest keine Freaks gab. Dunkles Wasser floss in einem
kleinen Rinnsal in der Mitte des Tunnels, und wir drückten uns an den Rand, um den kleinen, pelzigen Kadavern auszuweichen, die darin trieben.
Es war ein elender Marsch. Gegen Ende blieb uns nichts anderes mehr übrig, als das zu essen, was Jengu uns gab, und zu hoffen, dass wir davon nicht krank wurden. Die Luft roch widerlich, und ich versuchte, nur durch den Mund zu atmen. Unserem Führer, dem Tunnelbewohner, schien es nichts auszumachen, und Bleich zeigte nie, wenn ihm etwas missfiel.
Schließlich kamen wir zu einer mit irgendeinem Schleim überzogenen Wand, an der Metallstangen befestigt waren. Jengu deutete mit dem Kopf darauf. »Hie’ hoch. Dann seid ih’ draußn.«
»Kommst du nicht mit?«
»Wi’ brauchn jetz’ nich’s von Oben. Abe’ manchmal wi’ gehn. Sachn holn.«
Sie gingen ab und zu an die Oberfläche, um ihre Vorräte aufzustocken? Interessant . Vielleicht wusste Bleich tatsächlich, wovon er redete. Vielleicht konnten wir es schaffen.
»Danke für alles«, sagte Bleich.
»Ja, danke!«
»Kei’ Problem.«
Der Tunnelbewohner wartete nicht ab, ob wir es schafften hinaufzuklettern. Mit der Fackel in der Hand drehte er sich um und schlurfte den Weg zurück, den wir gekommen waren. Bald schon verschlangen uns die Schatten, und ich konnte nur noch Bleichs unscharfe Umrisse neben mir erkennen.
»Ich gehe als Erster.«
Ich widersprach seinem Vorschlag nicht, ließ ihn aber auch nicht zu weit vorausklettern. Die Metallstangen waren glatt und glitschig; mehrere Male hätte ich beinahe den Halt verloren und wäre wieder nach unten gestürzt. Verbissen arbeitete ich mich weiter hoch.
»Wie weit?«
»Fast da.« Ich hörte, wie er etwas betastete, dann das Knirschen von Metall auf Stein. Er zog sich nach oben und kletterte durch etwas, das aussah wie ein kleines, rundes Loch, hinaus ins Freie. Fahles Licht fiel in den Schacht. Es hatte eine vollkommen andere Farbe, als ich es jemals zuvor gesehen hatte: ein mattes Silber, kühl, wie Wasser. Mit Bleichs Hilfe kletterte ich das letzte Stück hinauf und sah zum ersten Mal in meinem Leben die Oberfläche.
Es verschlug mir den Atem. Langsam drehte ich mich einmal im Kreis. Ich zitterte allein wegen der schieren Weite. Dann legte ich den Kopf in den Nacken und sah über mir eine riesige schwarze Fläche, getupft mit hellen
Weitere Kostenlose Bücher