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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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auf seinem Arm und wischte ihm die Tränen ab, während er mich anstarrte, stumm und verletzt. Wir hatten so viel zusammen erlebt. Konnte er wirklich glauben, ich hätte …
    »Diebin!«, fauchte er und drehte sich weg wie die anderen.
    Er wusste nicht, dass ich ihn gerettet hatte. Merkte nicht einmal, welches Opfer ich für ihn gebracht hatte. Ich war wie betäubt.
    »Ihr habt fünf Minuten«, sagte Seide. »Ihr bekommt weder Essen noch Wasser. Euren persönlichen Besitz dürft ihr mitnehmen, aber ihr werdet noch einmal durchsucht, bevor ihr diese Enklave zum letzten Mal verlasst.«
    In ihren Augen spiegelte sich eine stumme, traurige Gewissheit
über das, was ich getan hatte. Was Bleich getan hatte. Ich mochte Seide zwar nicht, aber ich glaubte auch nicht, dass es ihre Entscheidung gewesen war. Sie musste sie nur vollstrecken. Ich wusste, warum ich Stein geholfen hatte – über Bleichs Gründe war ich mir nicht so sicher. Was immer sie gewesen sein mochten, jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als mir in die Verbannung zu folgen.
    Mit zitternden Händen packte ich meine Habseligkeiten in den Beutel, den ich immer auf Patrouille mitnahm: Ersatzkleidung, meine Decke, die Dose mit Banners Salbe und ein paar von meinen kleinen, glänzenden Schätzen. Alles in allem war es nicht viel. Blieben nur noch meine Waffen. Ich band sie mir um, aller Hoffnung beraubt, mein Herz gebrochen.
    Unterwegs stellte Zwirn sich mir in den Weg und zog mich in seine Parzelle. Ich hatte sie noch nie zuvor von innen gesehen. »Wir haben nicht viel Zeit.« Er wühlte in seiner Kiste und zog etwas heraus, das aussah wie ein Umhängegurt aus Leder. In die daran befestigten Taschen stopfte er getrocknetes Fleisch, die Beutel füllte er mit Wasser. »Hier, tu das unter dein Hemd.«
    »Sie bringen dich um, wenn sie herausfinden, dass du mir geholfen hast.«
    Er verzog den Mund. »So wie Banner?«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Wer, glaubst du, kümmert sich um die Toten?« Er schloss die Augen, aber nicht schnell genug, dass ich seine Trauer nicht gesehen hätte. Banner war ihm sehr wichtig gewesen. Er machte eine Faust und schlug sich damit auf die Handfläche. »Jemand hat uns verraten.«

    »Uns?« Es konnte keine Falle sein. Nicht in dieser Situation. Trotzdem wollte ich nicht preisgeben, was ich wusste.
    »Ich gehöre zu den Rebellen.«
    Ich erstarrte. Ich fragte mich, ob er – wie Bleich – glaubte, dass ich etwas mit Banners Tod zu tun hatte. Andererseits hätte er mir nicht geholfen, wenn er das für möglich gehalten hätte. »Es tut mir leid. Ich wünschte, ich hätte ihr helfen können, so wie du es jetzt tust.«
    Er zuckte die Achseln. »Das Risiko ist nicht besonders groß. Sie bringen mich sowieso um für das, was ich tun werde, sobald ihr weg seid.«
    Zum ersten Mal sah ich Zwirn an und erkannte ihn als den, der er war, und nicht als den unterwürfigen, emsigen Dienstboten von Dreifuß. In seinen Augen brannte ein zorniges Feuer. Seine Schultern mochten schmal sein, aber seine Haltung war aufrecht und selbstbewusst. Beinahe hätte ich ihn gefragt, was er vorhatte, aber wir hatten keine Zeit zu verlieren.
    »Wirf dein Leben nicht einfach weg«, sagte ich leise. »Was auch immer du vorhast, sorg dafür, dass es etwas bewirkt.«
    Zwirn nickte. »Du warst immer nett zu mir, und Stein ist ein guter Mensch. Ich weiß, dass er es nicht getan hat und du auch nicht.«
    »Niemand hat es getan«, erwiderte ich leise.
    Zwirn nickte kurz, dann steckte er den Kopf durch den Vorhang, um nachzusehen, ob die Luft rein war, und schob mich nach draußen. Der Umhängegurt unter meinem Hemd war kaum zu sehen. Mit etwas Glück würden die Wachen nur meinen Beutel durchsuchen, nicht mich.
    Als ich durch die Gassen zu den Tunnelsperren ging, bespuckten
sie mich. Ich hob das Kinn und tat so, als würde ich sie gar nicht bemerken. Bleich wartete bereits auf mich. Stumm standen wir da, während die Wachen unsere Beutel durchsuchten. Schließlich warf Rad mir den meinen ins Gesicht. Ich wagte kaum zu atmen, als sie sich vor mich hinstellte.
    »Du widerst mich an«, sagte sie mit drohender Stimme.
    Ich erwiderte nichts. Bleich und ich kletterten über die Barrikade wie schon so viele Male zuvor und ließen die Enklave hinter uns zurück. Doch dieses Mal gingen wir nicht auf Patrouille. Keine Rückkehr, keine Sicherheit, die auf uns wartete. Ohne nachzudenken, ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen, rannte ich los.
    Ich rannte, bis der

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