Die Enklave
stechende Schmerz in meiner Seite so stark war wie der in meinem Herzen. Schließlich packte mich Bleich von hinten und schüttelte mich. »Wir werden es nicht schaffen, wenn du so weitermachst.«
Ein ersticktes Lachen brach aus meiner Kehle. »Bist du verrückt? Wir schaffen es so oder so nicht. Ohne Nassau, wie sollen wir da durchkommen? Warum bist du überhaupt mitgekommen? Jetzt muss ich mir wegen dir auch noch Vorwürfe machen!«
»Du bist mein Partner«, sagte er, als hätten die Worte jetzt eine neue Bedeutung.
»Aber du hast gelogen. Ich weiß, dass du das Buch nicht bei Stein versteckt hast.«
»Und ich weiß, dass du es nicht gestohlen hast.«
»Er aber auch nicht«, flüsterte ich. »Es ist so unfair! Sie waren es.«
»Ich weiß.«
»Wie lange schon?« Enttäuschung und Schmerz bohrten sich in mein Herz wie Glassplitter.
»Von Anfang an«, sagte er.
»Das erklärt, warum du sie immer schon so gehasst hast.«
Er schlang die Arme um mich, und mein erster Impuls war, ihn wegzustoßen. Doch jetzt existierten die Regeln nicht mehr. Ich war keine Jägerin mehr. Ich war nur noch eine junge Frau mit sechs Narben auf den Unterarmen. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag.
»Du darfst es nicht als Todesurteil ansehen«, sagte er.
»Glaubst du wirklich, wir können überleben?«
»Hier unten? Nicht sehr lange. Aber Oben ist nicht das, was sie immer erzählt haben, Zwei. Es ist gefährlich, das stimmt, aber es bedeutet nicht den unweigerlichen Tod.«
Meine Zähne klapperten allein bei der Vorstellung. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich auf die Gefahren vorbereitet, die mich in den Tunneln erwarteten. Von anderen Dingen wusste ich nichts. Rein gar nichts. Ich legte den Kopf in den Nacken, als könnte ich durch all die Meter von Metall und Stein hindurch die Wunder erblicken, die er gesehen hatte, und die Schrecken, die er überlebt hatte. Oben . Das klang wie eine Geschichte, die man einem Balg in einer stillen Abendstunde erzählt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es dort aussehen sollte.
»Wenn du es sagst.«
»Komm. Wir müssen weiter. Bevor die nächste Patrouille ausrückt, müssen wir hier verschwunden sein, sonst müssen wir mit ihnen kämpfen.«
Das wollte ich nicht. Und so wie er mich ansah, er auch nicht. »Hast du Kegel umgebracht?«
Sein Schweigen war Antwort genug.
»Wir werden nicht lange hier unten sein«, sagte er schließlich. »Erinnerst du dich an die Plattform, auf der wir in der ersten Nacht geschlafen haben?«
Der Ort mit der widerlichen Ruine von einem Waschraum. Ja, ich erinnerte mich daran. Ich nickte.
»Das metallene Tor am anderen Ende versperrt den Zugang zu einer Treppe. Die Stufen führen nach Oben.«
»Glaubst du, wir kriegen es auf?«
»Wenn nicht, kennen die Tunnelbewohner vielleicht einen Weg nach draußen. Sie haben jede Menge Nebentunnel.«
Ich nickte. »Außerdem sollten wir sie vor weiteren Tauschgeschäften mit der Enklave warnen, falls Zwirn mir die Wahrheit gesagt hat. Das ist das Mindeste, was wir ihnen schulden.«
»Abgemacht.«
Bleich ging voraus, und ich folgte ihm. Sein Tempo war mörderisch, doch ich wusste, was er wollte: raus aus diesen Tunneln. Er hätte sich jederzeit davonstehlen können, aber vielleicht wollte er sich nicht alleine auf den Weg machen. Ich konnte ihn nur zu gut verstehen.
Mit jedem Schritt ließ ich die mir bekannte Welt ein Stück weiter zurück.
BUCH ZWEI
Oben
Vom Keller gelangte sie in einen langen Flur, in den der Mond hineinschien, und kam an eine Tür. Sie bekam sie auf, und zu ihrer großen Freude fand sie sich an dem anderen Ort wieder, zwar nicht auf der Mauerkrone, aber in dem Garten, den sie schon so lange hatte betreten wollen.
– aus Tagjunge und Nachtmädchen
UNBEKANNT
Die Plattform sah genauso aus, wie wir sie zurückgelassen hatten, mit einer Ausnahme: Es lagen keine Freakleichen herum, nicht einmal Knochen; wir sahen nur das verschmierte Blut, wo die Kadaver gelegen hatten und fortgezerrt worden waren. Wir lauschten auf jedes Geräusch, aßen und tranken etwas, dann ging Bleich hinüber zu dem Metalltor.
Ein Schloss hing davor, aber das Tor selbst war alt und verrostet. Bleich trat so lange dagegen, bis es sich weit genug verbogen hatte, dass zwischen Tor und Mauer ein Spalt frei war. Er war so schmal, dass wir uns seitlich hindurchquetschen mussten und uns die Haut leicht aufschürften, aber wir schafften es.
Dann standen wir auf der anderen Seite.
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