Die Enklave
Punkten. Instinktiv wollte ich mich zusammenkauern und meine Augen bedecken. Zu viel Raum um mich – nackte Panik rollte über mich hinweg.
»Hab keine Angst«, sagte Bleich. »Schau einfach nach unten. Vertrau mir.«
Er hatte recht. Sobald ich auf den Boden schaute, ließ meine Angst nach. Ich blickte nur noch nach oben, wenn ich musste. Wir waren umgeben von großen Kästen, die mir teilweise den Blick verstellten. Glas- und Steinsplitter lagen auf dem Boden verstreut, und die Luft war voller Geräusche, die ich nicht kannte. Sie waren ganz anders als die Unten. Ein Luftzug blies zwischen den Steintrümmern hindurch
und machte ein Geräusch wie ein trauriges Lied. Ich hörte ein Schaben und Wetzen, das mich zutiefst erschreckte: Wir waren nicht allein, und ich hatte keine Ahnung, was in dieser Dunkelheit auf uns lauerte.
Unten hatte ich das stets gewusst. Aber ich wollte meine Angst nicht zeigen. Bezwing sie, Jägerin .
»Was ist das?«, fragte ich und deutete nach vorn.
»Häuser. Die meisten sind verlassen.«
Manche davon waren wahnsinnig hoch, ragten unglaublich weit hinauf. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es einmal möglich gewesen sein sollte, so etwas zu bauen. Andere waren eingestürzt oder umgefallen, und überall lagen Trümmer auf dem Boden. Das wiederum kannte ich nur allzu gut.
Zumindest brannte die Luft nicht in meiner Lunge, und es roch auch viel besser, als ich anhand der Geschichten, die man uns erzählte, erwartet hatte. Kein Verwesungsgestank, keine faulige Brise wie in den Tunneln. Und mir wurde auch nicht übel. Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen, dass die Ältesten uns belogen hatten. Aber vielleicht hatten sich die Dinge Oben auch verändert, seit wir uns Unten verschanzt hatten.
Während ich noch um Fassung rang, schob Bleich den metallenen Deckel zurück über das Loch und stampfte ihn fest. Wir standen mitten in einem Tal aus Fels. Er sah nicht aus wie natürlich gewachsen. Er war alt und verwittert, ja, aber auf mich wirkte es eher, als wäre er einmal flüssig gewesen, als hätte man ihn über den Boden gegossen und dann hart werden lassen.
»Ich glaube, du erzählst mir am besten alles, was du über diesen Ort weißt«, sagte ich zitternd.
»Das werde ich«, versprach Bleich. »Aber zuerst müssen wir einen Unterschlupf finden. Hier oben gibt es keine Freaks – zumindest gab es sie früher nicht –, aber soweit ich mich erinnere, gibt es andere Gefahren.«
»Hier können wir uns doch überall verstecken.«
Bleich nickte. »Aber die meisten Verstecke sind markiert. Siehst du?« Er ging weiter und deutete auf rote und weiße Farbkleckse an den Gebäuden. »Die Gangs hier oben verteidigen ihr Gebiet ziemlich brutal. Besser, wir laufen ihnen nicht über den Weg.«
»Was ist eine Gang?«
»So was Ähnliches wie die Einwohner einer Enklave«, erwiderte er. »Nur gefährlicher.«
»Bist du deswegen von hier weg? Um weg von den Gangs zu kommen?«
»Zum Teil.«
Ich merkte, dass ich keine Antwort bekommen würde, solange er damit beschäftigt war, die Gebäude abzusuchen, also versuchte ich, ihm dabei zu helfen. Ich wusste zwar nicht, was die Symbole bedeuteten, aber ich konnte ihm sagen, wenn ich welche entdeckte. Wir waren schon eine ganze Weile über den rauen steinernen Weg – an manchen Stellen war er aufgeplatzt und uneben, als hätte die Erde darunter einen Satz gemacht und ihn ordentlich durchgeschüttelt – gegangen, als Bleich ein verfallenes rotes Gebäude erspähte, an dem keine Markierungen waren.
»Hier?«, fragte ich.
»Sehen wir mal nach.« Er lief drei Stufen hinauf zu einer Tür. Sie ging sofort auf, als er dagegendrückte. Doch dann taumelte er zurück, eine Hand über dem Mund. »Komm
nicht näher. Es hat seinen Grund, dass dieses Gebäude nicht markiert ist.«
Wir legten eine schier unglaubliche Distanz zurück, und die ganze Zeit über kämpfte ich gegen die in mir aufsteigende Panik an. Ich hielt es hier oben einfach nicht aus. Um das Gefühl zu verdrängen, konzentrierte ich mich auf all die neuen Dinge um mich herum. Über uns flatterte etwas durch die Dunkelheit. Ich duckte mich und rollte mich zu einer Kugel zusammen.
»Was war das?!«
Bleich lächelte. »Das ist ein Vogel. Er kann dich nicht fressen. Du bist zu groß.«
Als würde er auf dem Wind reiten, flog er immer höher hinauf, und ich sah die Umrisse seiner schmalen Flügel. Sie waren schön. Ich staunte darüber, wie etwas so Wundervolles existieren konnte, und
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