Die Enklave
Es war unglaublich groß, und ich konnte kaum glauben, dass ein so riesiges Gebiet einmal voller Menschen gewesen sein sollte. Wir marschierten zügig, um die Freaks abzuhängen, falls welche in der Nähe waren. Ich hielt immer wieder Ausschau und schnupperte in der Luft, aber je weiter wir nach Norden kamen, desto weniger Anzeichen für Leben sah ich, weder menschliches noch anderer Art.
Anfangs kamen wir gut voran, weil wir immer noch die Verpflegung aus den Ruinen hatten. Als sie jedoch zur Neige ging, verlangsamte sich unser Marschtempo, weil wir nach Nahrung suchen und Trinkwasser für den nächsten Tag abkochen mussten. Sobald wir die Ruinen hinter uns gelassen hatten, wurden die Zeitspannen, in denen wir keine Relikte aus den alten Tagen fanden, immer länger. Es gab nach wie vor keine Hinweise darauf, dass irgendjemand außer den Untergrundstämmen und den Gangern die Seuche überlebt hatte.
Wir waren seit acht Tagen unterwegs, als Pirscher und Tegan begannen, sich über unsere Tageseinteilung zu beklagen.
Es war das erste Mal, dass sie sich in irgendetwas einig waren; insgesamt waren sie sehr darauf bedacht, ihre Feindseligkeiten unter Verschluss zu halten. Keiner von beiden ließ zu, dass die Vergangenheit unseren Marsch offen beeinträchtigte.
Pirscher brachte das Thema zur Sprache. » Wir können aufhören, nur bei Nacht zu marschieren. Es wird immer kälter, und hier draußen gibt es nichts, dem wir aus dem Weg gehen müssten.«
»Ich würde gerne wieder die Sonne sehen«, fiel Tegan mit ein.
Bleich sah nachdenklich aus. » Wir müssten einen Tag Pause einlegen. Wach bleiben und Vorräte sammeln, damit wir das Schlafen auf die Nacht verlegen können.«
»Es ist ja nicht gerade so, als ob wir zu irgendwas zu spät kommen würden.« Tegan grinste ihn an.
Ich nickte. »Spricht nichts dagegen.«
Jeder musste Opfer bringen, und jetzt war eben ich an der Reihe. Dennoch konnte ein Teil von mir nicht anders, als sich vor dem zu fürchten, was kommen würde. Die Sonne würde mich zu Asche verbrennen.
»Deine Haut wird sich daran gewöhnen«, sagte Bleich sanft. »Versuch einfach, sie möglichst gut zu bedecken.«
»Wenigstens ist es kalt.«
Auf dem Weg aus den Ruinen heraus hatten wir noch mehr Kleidung aufgesammelt, aber es war schwieriger gewesen, als ich erwartet hatte. Vieles war von Ungeziefer angefressen, anderes Moder und Schimmel zum Opfer gefallen. Das glatte Material, aus dem meine Sachen waren, schien das widerstandsfähigste zu sein, also suchten wir nach Kleidung
aus demselben Stoff, nur dicker. Möglichst viele Schichten waren sinnvoll, um uns vor dem scharfen Wind zu schützen.
Es dämmerte schon fast, die ersten Lichtstrahlen tasteten sich über den Himmel, und wir mussten einen Platz zum Rasten finden. Bleich wollte möglichst nahe am Fluss bleiben, also schaute ich nach Norden und Süden. Ich war diejenige, die im Dunkeln am besten sehen konnte, dafür tat das Sonnenlicht meinen Augen weh, selbst wenn ich die dunkle Brille trug, die wir unterwegs gefunden hatten. Pirscher hatte die besten Tagaugen, und sobald wir begannen, im Hellen zu marschieren, würde er die Führung übernehmen und nach Gefahren Ausschau halten. Ich war mir nicht sicher, was ich davon halten sollte.
»Da drüben ist was. Vielleicht ein Gebäude«, sagte ich.
»Kannst du sagen, wie weit weg?«, fragte Tegan.
Ich sah an ihrer Körperhaltung, dass sie kurz vor der Bewusstlosigkeit war. Von uns allen war sie am wenigsten an lange Märsche gewöhnt. Sie war nicht stark, ihr Leben bei den Wölfen hatte sie nur auf eine einzige Sache vorbereitet – und das war nicht, den ganzen Tag lang zu marschieren.
»Fünfzehn Minuten vielleicht? Schaffst du das?«, fragte ich.
Wenn nicht, würden wir uns ein weiteres Mal auf dem nassen Gras in unsere Decken wickeln müssen. Ich wusste nicht, wie es den anderen ging, aber ich hätte gerne einen Unterschlupf gehabt, vor allem da wir während des Tageslichts wach bleiben mussten. Pirscher und Bleich nickten. Fünfzehn Minuten würden sie schaffen, kein Problem.
Ich ging voraus, weil ich die Einzige war, die auf diese Entfernung etwas erkennen konnte. Wir hatten etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Bleich sagte: »Ich sehe es.«
Der Himmel wurde heller, die Umrisse des Gebäudes deutlicher. Es war aus unbehauenen, verschieden großen Steinen gebaut und sehr alt, vielleicht das älteste Relikt, das wir bis jetzt gesehen hatten, aber es hatte vier Wände und ein
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