Die Enklave
Während ich die Küche verließ und auf die Tür zuging, packten die anderen ihre Sachen zusammen.
Tröstende Dunkelheit umfing mich, im Wind lag eine Vorahnung von Regen. Ich hoffte, dass er ausbleiben würde – unsere erste Nacht Oben hatte mir nicht mehr besonders gut gefallen, nachdem der Regen irgendwann begonnen hatte, meine Haut wie mit Peitschenhieben zu traktieren. Im Moment war mir immer noch warm, und mein Gesicht schmerzte wegen Tegans Fausthieb. Das würde auf jeden Fall einen Bluterguss geben; sie hatte einen harten Schlag.
Pirscher holte mich auf der Treppe ein, und die Schatten ließen ihn weniger furchterregend aussehen, glätteten seine Narben und schwächten die Farbe etwas ab. Mir fiel auf, dass sie immer noch da war, obwohl er sich gewaschen hatte. Das verblüffte mich.
»Ich werd’s tun, wenn sie mitmacht«, sagte er.
»Was?«
»Noch mal von vorn anfangen. Bei den Wölfen habe ich getan, was ich tun musste. Aber jetzt stehen die Dinge anders. Ich akzeptiere das. Ich akzeptiere, dass ich nicht mehr der Anführer bin.«
Ich dachte über seine Worte nach. In dieser Hinsicht war er wie ich: Er konnte sich anpassen, um zu überleben. Das war etwas anderes als reine Gewaltausübung, aber ich sah es als Stärke an.
»Eigentlich ist niemand mehr der Anführer. Wir müssen zusammenarbeiten.«
Pirscher nickte und ging weiter. Anscheinend hielt er das Thema für abgeschlossen. »Was bedeuten deine Narben?«
Im ersten Moment wusste ich nicht, wann er sie gesehen hatte, aber dann wurde mir klar, dass er mich beobachtet haben musste, als ich meinen Arm versorgte. »Sie bedeuten, dass ich einmal eine Jägerin war.« Als er mich fragend anschaute, fügte ich hinzu: »Erinnerst du dich, wie ich gesagt habe, dass ich die Enklave gegen die Freaks verteidigen würde, wenn ich stark und tapfer genug wäre?« Pirscher nickte. » Das ist es, was sie bedeuten.«
»Dann sind sie also ein Zeichen dafür, dass du Menschen beschützt«, erwiderte er. »Bleich trägt sie auch.«
»Und jetzt hat er noch mehr.« Ich sagte das ohne Anklage
in der Stimme. Wenn ich die anderen aufforderte, die Vergangenheit ruhen zu lassen, musste ich auch dazu bereit sein.
»Da hast du wohl recht.«
Ich war selbst überrascht, als ich mich fragen hörte: »Was bedeuten deine? Und die Farbe?«
»Es ist keine Farbe«, entgegnete er. »Es ist Tinte.«
»Das Zeug, mit dem sie früher Bücher geschrieben haben? «, fragte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»So ähnlich. Wir verwenden Nadeln, stechen sie entlang der Narben in die Haut. So kennzeichnen wir unseren Rang.«
Zumindest damit hatte ich also richtiggelegen. »Hat es wehgetan?«
»Ja. Bei dir?«
Ich hatte nicht vor, ihm zu erzählen, wie ich geweint hatte, während sich die glühende Klinge in meine Haut brannte, aber ich gab zu: »Ziemlich.«
Noch bevor er etwas erwidern konnte, kamen die anderen heraus.
Bleich blickte kurz zwischen uns hin und her, als würde er sich fragen, worüber wir gesprochen hatten, ging dann aber sofort zum Praktischen über. » Wir sollten versuchen, den Fluss wiederzufinden, und ihm dann so weit nach Norden folgen wie möglich. Wir brauchen das Wasser, damit wir es abkochen und trinken können. Es müsste auch Fische geben, und wenn uns die Dosen ausgehen, können wir unterwegs jagen.«
Das klang nach einem guten Plan. Der Wind wurde stärker, kleine Wassertropfen schwebten darin und machten uns nass, und ich zog das Extrastück Stoff an meinem Pullover
über den Kopf. Es wurde kühler. Die Tage mochten warm sein, aber die Nächte waren kalt.
»Bevor wir die Ruinen verlassen, sollten wir uns nach wärmerer Kleidung umsehen«, sagte Tegan.
Ich war derselben Meinung. »Sicher finden wir noch ein paar Läden.«
Bleich hatte seit dem vorigen Tag nicht viel mit mir gesprochen. Er nahm sich Pearls Tod sehr zu Herzen, genauso wie Banners, und das machte mich zornig. Er verstand den Lehrsatz der Jäger – die Toten kann man nicht mehr retten – einfach nicht. Man konnte einen Menschen vermissen, ja, aber es war nicht gut, sich an dem Verlust festzuklammern. Ich wünschte mir, ich könnte die richtigen Worte finden wie ein Zeuger oder ihn mit einer sanften Berührung trösten. Aber das konnte ich nicht. Meine Qualitäten waren Dolche und Entschlossenheit.
Das musste genügen.
MARSCH
Entlang dem Fluss gingen wir weiter Richtung Norden.
Das Gebiet, das die Ruinen umfassten, reichte viel weiter, als ich mir je hätte träumen lassen.
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