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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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Wohnung hinausgestürzt wäre. Sich dann aber entsetzt gefragt habe, ob es einen Hinterausgang im Haus gäbe, womöglich stiegen die SS-Leute schon die Treppe hoch, während er hinunterrannte. So sei er auf die verrückte Idee gekommen, auf den Dachboden zu fliehen, um dort aus einer Luke auf das Dach zu steigen, sich auf der Regenrinne stehend an die Dachschräge anzuschmiegen. Und zu all diesen hektischen Überlegungen, die ihm durch den Kopf schössen, sei noch eine andere gekommen, ein Verdacht, der allerverrückteste, der sich aber erst jetzt, wo sie da sei, als so verrückt erwiesen habe, genaugenommen sei es ja der naheliegendste gewesen, sagte er, daß sie nämlich ihn bei der Polizei angezeigt habe, aus Angst, aus Todesangst, denn wer Deserteure versteckte, wurde erschossen oder gehenkt. Oder, sagte Bremer, er habe gedacht, jemand hätte ihn gestern nacht beobachtet, als er mit ihr hinaufgegangen sei, jemand, der nicht habe schlafen können und wie er vorhin aus dem Fenster geguckt habe. Er hatte dabei eine Frau vor Augen, wie sie am Fenster stand und in die nächtliche Straße starrte, er sah sich, wie er mit Lena unter der Plane kommend das Haus betrat. Er lauschte an der Wohnungstür. Die Treppen im Haus knackten unter tastenden Schritten. Nein, im Treppenhaus war alles still. Nur von unten, sehr fern, waren ein paar Stimmen zu hören. So stand er eine lange Zeit, und als sich nichts rührte, nichts zu hören war, wurde er ruhiger und konnte sich selbst beruhigen mit dem Gedanken, es sei ein Zufall gewesen, der die Frau in die Richtung dieses Hauses zeigen ließ. Er ging wieder zum Küchenfenster. Hin und wieder sah er die Frauen und Kinder mit den Eimern, Fußgänger. Und von fern, von der Wexstraße her, hörte er das Motorgeräusch von einem Wehrmachtslaster.
     
    Einem solchen Laster hatte frühmorgens Lena Brücker gewinkt. Der Wagen hielt, zwei Luftwaffensoldaten saßen in der Fahrerkabine, zwischen ihnen eine Frau. Wohin? Elmsbüttel. Immer rin inne gute Stube, sagte der Fahrer. Lena Brücker stieg ein. Kaum war der Laster angefahren, begann ein tastendes Wirrwarr der Hände, der Beifahrer, ein Gefreiter, knutschte mit der Frau, und seine Hand verschwand unter dem Rock der Frau, deren Rechte etwas mechanisch den Oberschenkel des Gefreiten streichelte, dieses gräßlich kratziggraue Uniformtuch, während die Linke der Frau in dem offenen Hosenschlitz des Fahrers verschwand, der, wenn er nicht hin und wieder schalten mußte, sich mit seiner Rechten ebenfalls unter dem Rock zu schaffen machte, und als der Gefreite mit seiner rechten Hand, ohne hinzusehen, nach Lena Brückers Knie tastete, hielt sie die am Handgelenk fest und sagte: Ich möchte nicht. Auf einmal hielten die drei inne, einen Augenblick nur, lächelnd und durchaus verständnisvoll, keineswegs böse oder vorwurfsvoll, sahen der Beifahrer und die Frau Lena Brücker an, um sich dann wieder einander zuzuwenden. Ein glucksendes Lachen, ein Schnaufen, Quieken. Dachte immer, hoffentlich rammt der nicht eine Laterne, fuhr langsam, aber doch ziemlich ruckartig. Machte sogar einen Umweg und setzte mich wie n Taxi vor der Behörde ab.
     
    Frau Brücker lachte, ließ einen Augenblick das Strickzeug im Schoß ruhen.
    Tja, sagte sie, ich war, was das anging, nicht prüde, aber immer krüsch. Hat nicht an Angeboten gefehlt. Aber mal, sagte Frau Brücker, waren die Kerle so plump und direkt, grapschten gleich, oder sie rochen, wie ich es nicht mag, damals rochen die Männer noch stärker, Tatsache, nach billigem Tabak, kaltem Essen und Talg, gab ja auch wenig Seife. Oder die sahen einen mit so nem Blick wie Nachbars Lumpi an. Ich war ja frei. Der Mann weg. Mußte niemanden fragen, auf niemanden Rücksicht nehmen, nur auf mich. Aber nur einmal in den sechs Jahren war ich mit einem Mann zusammen. Silvester 43 war das. Da hatten sich einige aus der Behörde zusammengetan, viele Frauen, auch die paar Männer, die freigestellt waren. Sie hatte lange mit einem Mann getanzt, der für die Mehlzuteilung zuständig war. Ein guter Tänzer, der rechts und links walzen konnte, sie, auch wenn ihr schon ein wenig schwindlig war, fest und sicher hielt, sie konnte sich weit nach hinten zurücklehnen, den Kopf in den Nacken fallen lassen. Bis der Mann nicht mehr konnte und schnaufte. Um zwölf Uhr stießen alle an, und jemand rief: Auf ein glückliches, auf ein friedliches neues Jahr. Sie hatte danach noch mehrmals mit dem Mann getanzt, eng und langsam, obwohl sie

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