Die Entdeckung der Currywurst
gegenüberliegenden Schulter bewirkte, hinter dem rechten, dem linken Ohrläppchen. Er hatte sich frisch rasiert, wie sie spürte, die Zähne geputzt, wie sie roch, er hatte sich sorgfältig den Binder umgelegt, anders als ihr Mann, der sich nur, wenn er aus der Wohnung ging, die Krawatte umband und sie sich immer sofort aus dem Kragen riß, wenn er die Wohnung betrat. Er zog ihr den Mantel aus, begann das Kleid aufzuknöpfen, bis sie es sich – ungeduldig – mit einem Ruck über den Kopf zog.
Später, sie setzte in der Küche die Kartoffeln auf den Kanonenofen, las er aus der Zeitung vor, die nur noch aus einer Seite bestand: Breslau kämpft noch, Russen haben Berlin eingeschlossen, verlustreiche Straßenkämpfe, die deutschen Truppen haben sich aus taktischen Gründen nochmals zurückgezogen vor den englischen und amerikanischen Divisionen. Ein Posthilfsarbeiter war durch das Beil hingerichtet worden, weil er Feldpostpakete im Postamt gestohlen hatte.
Berichte von der Harburg-Front. Bei Vahrendorf war es zu einem Gefecht gekommen. Im Raum Ehestorf entwickelten sich im Vorfeld hartnäckig geführte Kämpfe. Der Feind erlitt wie immer hohe und blutige Ausfälle. Die eigenen Verluste waren natürlich gering.
Nichts stand da von der Gruppe Borowski. Borowski, dem eine Maschinengewehrgarbe ein Bein abgesägt hatte. Und nichts von den siebzehn Gefallenen in einem Trichter, in dem wahrscheinlich auch Bremer an diesem Morgen gelegen hätte, denn er war dieser Gruppe Borowski zugeteilt gewesen.
So aber konnte er sich eine Zigarette anzünden, die Lena Brücker ihm mitgebracht hatte. Er sagte: Tosca, lehnte sich im Sofa zurück, sagte, wie Weihnachten, und dabei haben wir schon Mai. Sie hatte auf ihre Bezugskarte ein Päckchen Overstolz bei Herrn Zwerg gekauft. Der hatte nicht schlecht gestaunt, denn sie hatte vor sechs Jahren mit dem Rauchen aufgehört und tauschte seitdem die Zigarettenmarken gegen Lebensmittel, und zwar mit meiner Tante Hilde.
Frau Brücker zählte kurz die Maschen nach. Deine Tante Hilde war ne starke Raucherin.
Ich könne mich noch gut daran erinnern, sagte ich, wie ich mit meinem Onkel Heinz, der ja nur mein Stiefonkel war, die erste Currywurst an ihrem Stand gegessen habe. Stimmt es, daß er die Herkunft von Kartoffeln schmecken konnte?
Sie murmelte wieder, hielt den Finger an genau die Stelle, wo der dunkelbraune Stamm der Tanne aus dem hellbraunen Boden wuchs, nahm den dunkelbraunen Faden, strickte sieben Maschen, dann nahm sie den hellbraunen Faden und sagte: Stimmt. Der Heinz stand zu der Zeit an der Ostfront, die in Mecklenburg verlief. Er war ein Kartoffelkenner, wie andere Leute Weinkenner sind. Er konnte die Herkunft der Kartoffeln schmecken. Und das Erstaunlichste, er schmeckte die Herkunft auch dann, wenn die Kartoffeln gekocht, gebraten, gemust waren. Er schmeckte sogar ihre Lage heraus, so wie andere Leute Weinlagen herausschmecken.
Er ließ sich die Augen verbinden: Diese Pellkartoffel kam aus der Glückstädter Wildnis. Dieses Kartoffelmus, das war einmal die berühmte Soltauer Granate, eine Kartoffel wie ein Findling, überschwer, fest, aber doch nie glasig, oder die Stramme Alma, fein-mehlig zerging sie auf der Zunge, eine Kartoffel, wie man sie nur im sandigen Heideboden finden konnte. Diese kleingeschnittenen Kartoffelwürfel in der Steckrübensuppe (mit gewürfelter Schweinebacke), das waren Bardowieker Trüffeln, eine kleine dunkelbraune Sorte, fester im Biß, mit einem Geschmack nach – ja, nach schwarzen Trüffeln. Und dann das unvergleichliche Bamberger Hörnchen. Bremer mochte das nicht glauben, und da sagte sie, warte ab, bis er wieder da ist.
Dieses warte ab führte zu einer Pause, zu einem sichtbaren Stutzen seinerseits. Es war ihr nur so rausgerutscht, das warte ab , verriet ihm aber, daß sie in die Zukunft dachte, das heißt, wahrscheinlich auch plante. Was sie aber, versicherte mir Frau Brücker, gar nicht getan hatte. Jedenfalls nicht bewußt. Es war einfach so: Man sitzt zusammen, redet und fühlt sich wohl, und es soll so bleiben. Hab nicht gedacht an die Zukunft, an Zusammenleben, an Heiraten sowieso nicht – verheiratet war ich ja noch. Zusammenzusein, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Während er nur darauf wartete, endlich aus der Wohnung rauszukommen, endlich nach Hause zu kommen.
Sie versuchte denn auch sofort, diesen Satz zu verharmlosen, indem sie, den Tisch deckend, sagte, naja, das wird so oder so nicht mehr lange dauern. Hoffentlich kommt
Weitere Kostenlose Bücher