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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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die Arme auf den Küchentisch, den Kopf in die Hände und lachte, ein angestrengtes Lachen, das kurz vor einem Schluchzen war.
    Lammers is Blockwart, wohnt unten im Haus, war im Katasteramt, jetzt is er pensioniert und Luftschutzwart. Sie nahm die Kartoffeln vom Feuer, die inzwischen zerkocht waren. Bremer sagte, ihm sei der Appetit vergangen, aber dann aß er doch schnell, auch ihren Teil noch, nur hin und wieder hielt er inne und lauschte, wie sie, zum Treppenhaus. Dann aß er weiter. Das schmeckt, sagte er, einfach tosca.
     
    Komisch, sagte Frau Brücker, nich, der Bremer sagte, wenn was gut war, also sehr gut war: tosca. Aber so richtig genießen konnte er die Kutteln nicht. Der Schreck saß ihm noch in den Knochen. Und ich konnte gar nichts essen. Wir wußten ja auch nicht, ob der Lammers nicht noch mal raufkommt. Und dann hatte der auch noch einen Schlüssel für meine Wohnung, wegen der Brandgefahr, konnte also jederzeit, wenn ich auf der Arbeit war, in die Wohnung kommen. Lammers war nicht nur Blockwart, sondern auch noch Luftschutzwart. Er war erst spät in die Partei eingetreten, dann aber gleich gründlich, ein Hundertfünfzigprozentiger. Er hatte vor Verdun einen Granatsplitter in den Fuß bekommen und behauptete, ein Engel, kein christlicher, sondern die Seele seiner verstorbenen Großtante, einer Bäuerin, habe diesen Granatsplitter, der ihn eigentlich am Kopf hätte treffen sollen, in den Fuß umgeleitet. Diese Großtante hatte nämlich einen Klumpfuß. Die Leute lachten über Lammers. Er glaubte an Seelenwanderung. Erzählte jedem, daß er sich an ein früheres Leben erinnern könne, als er Hauptmann in der bayerischen Artillerie gewesen und 1813 unter Napoleon nach Moskau marschiert sei. Beim Übergang über die Beresina sei er dann ertrunken. Er sah sich selbst über den zugefrorenen Fluß reiten, als eine Kanonenkugel neben ihm ins Eis schlägt, es aufreißt, splitternd, und er samt seinem Pferd in das schwarze eisige Wasser stürzt. Er hat noch das Wiehern des Pferdes und seinen eigenen Todesschrei in den Ohren.
    Unsern Eisbayer nannten ihn alle, allerdings nur, wenn er nicht in der Nähe war. Und alle lachten über ihn, bis 36, da wurde nämlich im Nachbarhaus Henning Wehrs verhaftet. Wehrs war Schiffsbauer bei Blohm und Voss und bis 33 in der KPD gewesen. Wehrs begann, wenn er am Freitag betrunken war, auf die Nazis zu schimpfen: Mörderbande war noch das feinste. Alle sagten: Halt bloß die Klappe. Wenn das mal in falsche Ohren kommt. Und dann klingelte es eines Tages an der Tür. Frau Wehrs öffnet. Draußen stehen zwei Herren, fragen, ob sie mal Herrn Wehrs sprechen könnten. Und da Henning Wehrs gerade von der Frühschicht zurückgekommen war, sich eben gewaschen und ein frisches Hemd angezogen hatte, konnte er gleich mitgehen, zu dritt gingen sie die Treppe hinunter, redeten über das Wetter, über die Elbe, die nur wenig Wasser führte, und gingen zum Stadthaus. Erst nach drei Wochen kam Wehrs zurück. Wehrs war Wehrs und doch nicht mehr Wehrs. Er, dessen Lachen man durch zwei Etagen hören konnte, der über diesen Spökenkieker Lammers Witze riß und dann darüber am lautesten lachte, lachte nicht mehr. Es war, als wäre ihm dieses Lachen gestohlen worden. Es war wie im Märchen: Wehrs war nicht verletzt, hatte keine blauen Flecken, keine blutigen Fingernägel, keine Einstichstellen, nichts, aber er lachte nicht mehr, verriet auch nicht, warum er nicht mehr lachte. Dem war, sagte Frau Brücker, einfach das Lachen vergangen. Ein finsteres Schweigen. Lachte nicht, schimpfte nicht, weinte nicht. Sieht aus wie n Wiedergänger, sagte einer aus dem Haus. Auch seine Frau hörte nichts von ihm. Er faßte sie seitdem nicht mehr an. Lag im Bett, wach, manchmal stöhnte er. Und noch etwas: Er schnarchte nicht mehr. Manchmal kratzte er im Schlaf an der Bettkante, wovon sie jedesmal aufwachte, ein so durchdringendes Kratzen sei das, erzählte Frau Wehrs beim Milchmann und begann zu weinen.
    Was ist, was haben sie mit dir gemacht? Nix, sagte er.
    Er trank am Freitag. Aber jetzt auf eine stille Weise und so, daß man ihn nach Hause führen mußte. Einmal sagte er: Man muß das gesehen haben. Was? Aber dann sagte er nicht, was man gesehen haben mußte. Eines Tages stürzte er von der Helling herunter, auf der er nichts zu suchen hatte. Er war sofort tot. Es hieß, er habe Selbstmord begangen. Seine Frau bezog Rente. Betriebsunfall. Kollegen hatten ausgesagt, er habe da oben eine Eisenzwinge auswechseln

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