Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
Vom Netzwerk:
der Heinz heil zurück. Und übergangslos wechselte sie das Thema, erzählte, was der Gauredner heute auf der Betriebsversammlung verkündet hatte. Hamburg wird verteidigt. Bis zum letzten Mann.
    Wahnsinn, sagte Bremer.
    Sie piekte die Kartoffeln an. Sie waren noch etwas hart. Wie lange kann eine Stadt verteidigt werden? Lange genug, sagte Bremer, daß kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Leningrad haben sie drei Jahre verteidigt. Allerdings mit dem Unterschied, daß die Tommys hier ihre Bomber einsetzen werden. Die müssen ja nicht mehr weit fliegen. Starten dann von Münster, Köln, Hannover. Und hier, das sind keine Truppen mehr, alte Männer, Schreibstubenhengste, Militärmusiker, Hitlerjungen, Beinamputierte, mit denen ist kein Staat mehr zu machen. Richtig, Staat, rief er und sprang auf, das fehlte mir. Er ging ins Wohnzimmer, schrieb das Wort ins Kreuzworträtsel.
    In dem Moment klingelte es. Sie standen einen Augenblick da wie erstarrt. Los! Teller weg! Besteck weg! Die Gläser! Da klingelte es schon wieder, länger, dringlicher. Moment! Komme gleich, ruft sie, schiebt Bremer in die Kammer, da wird von draußen an die Tür geklopft, was heißt geklopft, gehämmert. Sie läuft ins Schlafzimmer, sammelt die Sachen von Bremer zusammen, die Mütze, einen Pullover, Socken, wirft alles in die Kammer, in der Bremer steht, bleich, starr, es klingelt im Dauerton, Hämmern an der Tür, hallo, ruft eine Männerstimme, die Stimme von Lammers, dem Block- und Luftschutzwart, bin aufm Klo, ruft sie, läuft auf Zehenspitzen ins Klo, zieht auch ab, denn Lammers horcht natürlich an der Tür, läuft auf Zehenspitzen ins Bad, da liegt auch noch das Rasierzeug. Wohin damit? In den Wäschesack. Sie schließt die Kammertür ab. Hallo, ruft Lammers Stimme, die Briefklappe in der Wohnungstür wird hochgehoben, die Finger, dann Lammers Stimme, er ruft durch den Briefschlitz: Frau Brücker! Sie sind doch da. Machen Sie auf! Ich hör Sie doch. Machen Sie sofort auf! Aufmachen!
    Ja doch, Moment. Sie riegelt die Tür auf.
    Bremer hat sich in der Kammer vorsichtig auf einen Koffer gesetzt und starrt wie ein verstecktes Kind durch das Schlüsselloch in den Korridor: ein Paar Schnürstiefel, schwarz, der eine, links, kleiner, buckeliger, ein orthopädischer Schuh, darüber Ledergamaschen, ein grauer fadenscheiniger Militärmantel, am Koppel ein Luftschutzhelm, ein Gasmaskenbehälter. Eine Altmännerstimme sagt, die Verdunkelung in der Wohnung müsse kontrolliert werden, fragt, ob die Eimer mit Löschsand gefüllt seien. Kann ja mal eine Brandbombe aufs Haus fallen, sagt die Stimme. Oder eine Granate, sagt sie, die Engländer schießen ja schon über die Elbe. Aber das wollte Lammers nicht hören. Wir schießen zurück. Davon hör ich nix, sagt Lena Brücker. Sie werden zurückgeschlagen. Oder haben Sie daran etwa Zweifel? Hamburg ist eine Festung. Rauchen Sie wieder, fragt die Stimme, und Bremer glaubt, ein demonstratives Schnüffeln zu hören. Ja, ein Rückfall. Ich habs von Herrn Zwerg gehört, sagt der fadenscheinige Militärmantel, Sie holen sich wieder Zigaretten auf Ihre Marken. Haben Sie doch früher immer gegen Kartoffeln getauscht.
    Ja, und?
    Und dann sieht Bremer die Stiefel, den Mantel mit dem Helm und der Gasmaskentrommel in der Küche verschwinden, hinter ihm her geht Lena Brücker. Auf dem Küchentisch liegt das Feuerzeug von Bremer, eine zum Feuerzeug umgebaute 2-cm-Flakpatrone mit einer norwegischen Gravur. Sie hatte das Feuerzeug, mit dem er sich die Zigaretten ansteckte, zwar bemerkt, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt. Jetzt aber liegt es da wie ein Schaustück aus einem Kriegsmuseum. Ein vom Gebrauch glänzend poliertes Messingteil, rund, lang: eine Patrone. Auch Lammers starrt sie an. Sie zieht eine Zigarette aus der Schachtel, konzentriert sich darauf, daß ihre Hand nicht zittert, nimmt das Feuerzeug, schwer und glatt liegt es ihr in der Hand. Sie schnippt, schnippt nochmals. Das kleine Rad läßt sich nur schwer drehen. Dann, endlich, kommt die Flamme. Lammers hat sie beobachtet. Sie sieht in seinem Gesicht ein grüblerisches Mißtrauen. Ihre Hand hat ein wenig gezittert, kaum merklich, ihr aber war es vorgekommen, als flattere sie. Vorsichtig raucht sie die Zigarette an, damit sie nicht husten muß. Vor nun fast sechs Jahren, als ihr Mann eingezogen worden war, hatte sie aufgehört zu rauchen. Und zwar ganz mühelos, als sei ihr mit seinem Verschwinden auch die Lust am Rauchen vergangen. Ein

Weitere Kostenlose Bücher