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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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verhandelt mit den Engländern über die Wiederherstellung der Zugverbindungen Hamburg-Flensburg. Der alltägliche Kram. Wieso gibt es kein Papier? Das größte Papierlager in Norddeutschland ist in Brand geraten. Wodurch? Brandstiftung. Das hatte sie in der Zeitung gelesen: Ein kleines Papierlager war abgebrannt. Ob durch Selbstentzündung oder Brandstiftung, war noch nicht geklärt.
    Brandstiftung, sagte Bremer, bestimmt die SS.
    Woher weißt du das?
    Natürlich, sagte er, klar, die SS. Es wird Auseinandersetzungen geben zwischen der SS und der Marine sowie Wehrmacht, klar doch, sonnenklar. Dönitz wird mit denen aufräumen. Die Marine hat ihre Pflicht getan, war an keiner der Schweinereien beteiligt, weder an dem Attentat auf den Führer noch an irgendwelchen Erschießungen von russischen Kriegsgefangenen.
    Übrigens, sagte Lena Brücker, Luftangriffe gibts nicht mehr, der Russe kommt mit seinen Bombern nicht hierher. Lammers ist als Luftschutzwart abgelöst worden. Er ist abgereist. Wo der jetzt wohl ist? Ich hab mir den Schlüssel zurückgeben lassen. Kann also keiner reinkommen. Aber mußt auch weiter leise sein, ohne Schuhe laufen. In vierzehn Tagen kommt Papier aus Amerika. Ist schon unterwegs. Auf den Liberty-Schiffen. Das war die Zeit, die ich mir gegeben hatte, noch vierzehn Tage, dann wollte ich ihm die Wahrheit sagen.
     
    An einem Samstagmittag kam Lena Brücker aus der Behörde und legte ein kleines, in eine durchsichtige Folie eingeschweißtes Paket auf den Tisch. Was ist das? Er drehte es in der Hand hin und her. Wasserdicht, darin zu sehen kleine Päckchen, Kekse, Drops, Dosen. Eine Eiserne Ration, sagte sie. Aus alten amerikanischen Armeebeständen. Die waren an ein Altersheim und ein Waisenhaus verteilt worden. Der Captain hatte Lena ein Päckchen geschenkt.
    Die Päckchen werden, erzählte Lena Brücker, über den russischen Stellungen abgeworfen. Propaganda. Statt Flugblättern werfen die Amis solche Päckchen ab. Fallen an kleinen Fallschirmen runter, Nektar und Ambrosia. Bremer bohrte mit einem Messer vorsichtig den Plastikbeutel auf. Wie zweckmäßig das war, luftdicht eingeschweißt, konnte nicht naß werden und nicht austrocknen: die salzigen Kekse, nicht schlecht, Brausepulver, eine kleine Dose mit Honig, eine Dose mit Käse, eine kleine Dose mit Wurst, eine Rolle Drops. Vier Kaugummis. Eines dieser in Stanniolpapier eingepackten Plättchen wickelte er aus, brach es durch, gab Lena die andere Hälfte. Er steckte zum ersten Mal in seinem Leben ein Kaugummi in den Mund. Ein Plättchen wie Pappe, es waren alte Armeebestände, das angekaut zu einer bröseligen Masse wurde, die sich dann aber langsam verdichtete und durch Beimischung von Speichel konsistent wurde. Sie saßen am Tisch und kauten. Sahen einander an, wie sie die Unterkiefer hin- und herschoben, ein Kauen, das die Zähne spüren ließ, ein Kauen, das die Muskeln härtete, ein Kauen, das einen Geschmack erzeugte, ich weiß nicht wie – lirum larum Löffelstiel. Sie sahen sich kauend an und lachten beide los. Wonach schmeckt dein Gummi? Er kaute und kaute. Was sollte er sagen? Er kam sich vor wie in einer Falle: Wonach schmeckt das? Nichts, nichts, hätte er sagen müssen, nichts. Sollte er sagen Erdbeere? Waldmeister? Er gab schließlich ein langgezogenes Tja von sich. Meins, sagte sie, schmeckt nach Zahnpasta, Minze, sagte sie. Ja, sagte er, genau, Pfefferminze, aber es ist wohl schon recht alt. Ich schmeck es nur noch von fern. Nein, wenn er ehrlich war, er schmeckte gar nichts.
    Sie öffnete das Fenster. Der Wind drückte die Wärme in die Küche. Die Sonne spiegelte sich in den gegenüberliegenden Fenstern. Es war gleißend hell. Sie zog sich aus, ohne Scham, nackt, wie sie das früher nie getan hatte, und das, obwohl sie inzwischen nicht mehr zwanzig war, legte sich zu ihm auf das Matratzenfloß. Sie lagen, auf die Arme gestützt, tranken ein paar Gläschen Birnenschnaps und knabberten die salzigen Kekse. Sie wollte sich auf die andere Seite legen, auf die linke. Die rechte Schulter tat ihr weh, auch der Rücken. Auf der Seite hatte sie die Tasche mit den aus der Kantine geklauten Kartoffeln hergeschleppt. Wo tut es weh? Hier, sie tippte auf die Wirbelsäule, in der Höhe des Beckens. Hoffentlich krieg ich keinen Hexenschuß.
    Leg dich hin, sagte er, auf den Bauch! Locker! Laß die Hinterbacken fallen! Immer noch angespannt! Ganz locker! Er kniete sich über sie und begann, ihre Schulterblätter zu massieren, dann die

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