Die Entdeckung der Currywurst
auf dem Matratzenfloß hatten treiben lassen.
Bremer zündete sich die Zigarette an, Players, zog den Rauch ein, der in tiefsten Tiefen verschwand und dann nach einem Moment in kleinen Wölkchen wieder erschien. Meine Güte, wer solche Zigaretten herstellt, gewinnt auch Kriege. Bremer hatte die Bleistifte, rote, grüne, gelbe und braune, angespitzt, der Atlas lag auf dem Tisch. Große Lagebesprechung beim Admiral. Er hatte die Stellungen der Engländer, Deutschen und Amerikaner eingezeichnet und wollte nun wissen, wo nach den letzten Nachrichten die Truppen standen. Sie hatte in der Kantine gehört, daß Montgomery weiter nach Osten vorrückte, der Roten Armee entgegen, während Eisenhower seine Truppen an der Elbe stehenließ. Also Wismar, Magdeburg, Torgau.
Lena Brücker hatte das Wort Kapitulation für die Stadt Hamburg verschwiegen, das war alles. Was dann geschah, bedurfte nur weniger Stichworte, um die Phantasie von Bremer in die Richtung zu lenken, in die sich die heimlichen oder auch offen ausgesprochenen Wünsche vieler bewegten: Es könne kurz vor der totalen Niederlage noch zu einer Wende kommen. Als Roosevelt gestorben war, hatte nicht nur Hitler auf ein neues Wunder des Hauses Brandenburg gehofft. Mit den Amis und Tommys gemeinsam gegen den Iwan. Das deutsche Heer. Abgehärtet in eisigen Wintern, auf verschlammten Rollbahnen, in trockenen Steppen. Vielleicht war der Krieg doch noch nicht ganz verloren, vielleicht konnte man sich noch einmal an der Katastrophe vorbeimogeln – und das meinte auch: an der Schuld.
Hatte ja, sagte sie, was Rührendes, wie er dasaß, wenn ich abends aus der Behörde kam. Mußte dann immer unwillkürlich an meinen Jürgen denken und sagte mir, hoffentlich gehts dem Jungen gut. Nur, der Jürgen war sechzehn und der Bremer doch immerhin 24. Andererseits war ich es ja, die ihm den Frontverlauf vorgab, den er dann einzeichnete, er gab dann die weiteren Ziele vor, wohin die Vorstöße gehen würden, Richtung Berlin natürlich, Richtung Breslau, die eingeschlossene Stadt, die immer noch verteidigt wurde, heldenhaft. Es geht also voran, sagte er, bekam aber plötzlich diese steile, fragende Falte, etwas Nachdenkliches, nein, Ängstliches breitete sich in seinem Gesicht aus. Denn je erfolgreicher die Truppen waren, je weiter sie wieder gen Osten vorstießen, desto länger zog sich der Krieg hin, und das hieß, um so länger saß er in dieser Wohnung, Wochen, Monate und – Schweiß brach ihm aus – Jahre. Natürlich wünschte er sich, daß der Krieg zu Ende ginge, so schnell wie möglich und, wenn möglich, auch noch siegreich. Aber selbst dann, wenn es zu einem Friedensschluß kommen sollte, saß er hier fest, und genau das wird wohl der Augenblick gewesen sein, als ihm erstmals der Gedanke kam, einer Frau in die Falle gegangen zu sein. Freiwillig zwar, aber, wie sich jetzt herausstellte, doch in die Falle. Wenn er sich genau prüfte, war es ja nicht nur die Angst vor den Panzern, vor den Engländern gewesen, sondern er war geblieben, weil ihm an jenem verregneten kalten Morgen, neben Lena liegend, die Hand auf ihrem warmen weichen Brustkissen, der Gedanke aufzustehen, in ein naßkaltes Erdloch zu steigen und sich totschießen zu lassen, so ganz und gar abwegig, ja pervers erschienen war. Und in dem Moment hatte sie gesagt: Du kannst bleiben. Hätte er sich irgendwo in einer Scheune versteckt, in einem leerstehenden Schrebergartenhäuschen, wäre er, wenn die Engländer angerückt wären, herausgekommen und hätte sich gestellt, hätte der englischen Militärpolizei, die ja mit den deutschen Kettenhunden zusammenarbeiten würde, sagen können: Ich habe den Anschluß an meine Einheit verloren. Zuletzt war ein solches Durcheinander gewesen, daß es nicht weiter aufgefallen wäre. Allenfalls hätte ihn ein Anpfiff erwartet, jetzt hingegen: das Peloton.
Dieses Gefühl, in einer Falle zu sitzen, ließ ihn tagsüber in der Wohnung hin- und hertigern. Ließ ihn, nachdem er die Küchenarbeit gemacht, also abgewaschen, geputzt, gewischt, poliert, gescheuert hatte, zwischendurch immer wieder aus dem Fenster in die Straße gucken, ins Wohnzimmer gehen, vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, von dort zurück in die Küche, ein Wort in das Kreuzworträtsel eintragen, dann wieder zum Fenster.
Es war ein ewiges leichtes Schaukeln der Decke, ein leises Quietschen, sagt mir Frau Eckleben, die unter Frau Brücker gewohnt hatte. Es war nicht so stark, war nicht so, daß man Schritte hörte, aber
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