Die Entdeckung der Currywurst
doch hörbar, nein, spürbar, ganz deutlich, daß da oben jemand war.
Ich sitze in einer Wohnung, eingerichtet mit skandinavischen Möbeln, in hellen blauen und grauen Tönen, ein beigefarbener Teppich. Die Tochter von Frau Eckleben ist Lehrerin und steht bereits vor der Pensionierung. Sie hat für meinen Besuch Kaffee gekocht, den selbstgebackenen Pflaumenkuchen hingestellt. Ich ließ mir einen kräftigen Klacks Sahne geben. Frau Eckleben war früher bei der Deutschen Reichspost und dort im Telegraphenamt beschäftigt. Sie betont, daß sie sich jeden Morgen kalt dusche, lobt ihr genaues Gedächtnis, das tatsächlich erstaunlich gut ist. Auch körperlich ist sie rüstig, geht jeden Tag zwei Stunden durch Sasel spazieren. Jedesmal, wenn sie die Kaffeetasse zum Mund führt, spreizt sie den kleinen Finger weit ab. Erzählt von der Kriegszeit. Zwischendurch steht sie auf, sagt zu ihrer ebenfalls aufspringenden Tochter, laß man, Grete, du mit deinem Kreuz, ich mach das schon, geht zum Wohnzimmerschrank, bückt sich, zieht eine Schublade auf und holt ein Fotoalbum heraus, zeigt sich mir als junge Frau, wie sie sagt. Da war sie 40. Das is mein Mann, Georg, is bei Smolensk gefallen, war Wachtmeister bei der Artillerie. Noch n Täßchen? Ja, bitte. Weder sie noch Frau Brücker weiß, daß ich weiß, nicht Lammers hat die Berichte für die Gestapo geliefert, sondern sie, Frau Eckleben. Ich habe die Berichte im Archiv nachgelesen, habe gelesen, was sie über Wehrs zu Protokoll gegeben hatte. Daraufhin wurde Wehrs verhaftet und verhört, das heißt gefoltert: »W hat sich über den Führer folgendermaßen geäußert: Jemand, der zum Krieg hetzt, um das Geschäft mit Thyssen und Krupp zu betreiben. Die Rüstung macht die Politik, der kleine Mann hält die Knochen hin. 23.4.36.«
»W. hält im Hausflur regelrechte Reden: Die NSDAP sei eine Verbrecherpartei. Horst Wessel ein verkrachter Student und Zuhälter. Die Nazibonzen, insbesondere Hermann der Dicke (ein Gestapowitzbold hatte an den Rand geschrieben: der OB der Luftwaffe), sind Halunken, Strolche, die in Saus und Braus leben. Spielernaturen, Hochstapler, Morphinisten, Verbrecher. 6. Juli 1936.«
Das muß kurz vor seiner Verhaftung gewesen sein. Ich habe auch einen Eintrag über Lena Brücker gefunden. Eingetragen sind diese Stimmungsberichte nach Häusern und Hausnummern.
»L. Brücker hetzt nicht offen, macht aber oft zersetzende kritische Bemerkungen. Beispielsweise zur Versorgungslage bei den Brennmitteln. B: Ich glaube nicht, daß der Führer so kalte Füße hat wie ich. (Umstehende lachen.) Oder: Die Juden sind auch Menschen. Oder: Das Volk liebt den Führer. Wenn ich das schon hör. Ich liebe meine Kinder. Und früher meinen Mann. Ich weiß, wohin das führt. 15.2.43.«
Eine Eintragung der Gestapo über Lammers: »Überzeugter Nationalsozialist. Lehnt aber Berichte über Mitbewohner ab. Ungeeignet!« Wofür er ungeeignet war, steht leider nicht dabei. Vielleicht könnte man auch das herausfinden. Ich begann zu blättern, Akten zu bestellen, aber dann ließ ich sie ungelesen wieder zurückgehen. Dieses an den Rändern zerfledderte, bräunlichgelbe Papier wäre eine andere Geschichte. Ich wollte ja nur herausfinden, wie die Currywurst entdeckt wurde.
Noch n Täßchen?
Nein, danke.
Die Brückersche hatte n Mann oben versteckt. Dachte ja erst, das sei ein Deserteur, womöglich ihr Sohn, der war ja Flakhelfer. Aber dann, nach der Kapitulation, dachte ich, ist vielleicht jemand von der Partei oder einer von der SS. Die Jungs wurden nach der Kapitulation doch verfolgt. Waren doch alle Idealisten gewesen. Kamen nach Lothringen in die Kohlengruben. Obwohl, sagt sie, so jemanden zu verstecken, hatte ich der Brückerschen nicht zugetraut, bei deren sonstiger Gesinnung.
Ich hätte der alten Frau Brücker erklären können, warum Frau Eckleben sie plötzlich so freundlich gegrüßt hatte, als sie die Treppe hinaufgestiegen war. Lena Brücker wußte nicht, wie ihr geschah, Frau Eckleben steckte ihr mit einem verschwörerischen Augenzwinkern eine Packung Zigaretten Marke Overstolz zu. Sie rauchen ja wieder, sagte Frau Eckleben. Und zwinkerte wieder.
Oben empfing sie Bremer, umarmte sie nicht, küßte sie nicht, sondern fragte: Hast du eine Zeitung?
Nee. Die Anweisungen werden über Rundfunk gegeben, auch die Nachrichten. Und dann hängen die Nachrichten am Gänsemarkt in den Schaukästen der Hamburger Zeitung aus. Und was steht drin? Die Reichsregierung Dönitz
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