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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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umgebogenen Splints der harmlosesten Niete dem Monteur den Schädel einzuschlagen. Zwei Expertenkommissionen trafen ein, und die AMU 116, die Wilmers Projektil aufs Haar glich, wurde in ihre Bestandteile zerlegt wie das Werk einer Uhr — alles ohne das kleinste Ergebnis.
       Zwar umfaßte der Sektor eine Million und tausendsechshundert Kubikkilometer, im übrigen aber gehörte er zu den ausgesprochen ruhigen, ohne Meteoritengefahr, ohne konstante Schwärme, und selbst die Bahnen irgendwelcher alter, jahrhundertelang nicht mehr gesichteter Kometen kreuzten ihn nicht — bekanntlich pflegt ja so ein Komet irgendwo in Jupiternähe, in dessen »Perturbationsmühle« mitunter in kleine Stückchen zu zerfallen und schickt dann in Abständen Bröckchen seines zerschmetterten Kopfes auf die alte Route. In diesem Sektor gab es nichts dergleichen — weder ein Satellit noch ein Planetoid berührte ihn, von einem Schweif ganz zu schweigen, und eben deshalb, weil die Leere dort so »rein« war, ging in diesem Sektor niemand gern auf Patrouille.
       Nichtsdestoweniger war Wilmer dort als zweiter verschollen, und sein Registrierband, das natürlich x-mal abgehört, fotografiert, vervielfältigt und ins Institut eingeschickt worden war, verriet genausoviel wie das Band von Thomas, nämlich nichts. Eine Zeitlang trafen noch Signale ein, aber dann brachen auch sie ab. Der automatische Sender strahlte ziemlich selten aus — einmal pro Stunde. Thomas hatte elf solcher Signale hinterlassen. Wilmer vierzehn. Das war alles.
       Nach diesem Vorfall ergriff die Leitung sehr energische Maßnahmen. Zunächst wurden sämtliche Projektile überprüft — die Atomreaktoren, die Systeme, ja jedes einzelne Schräubchen. Ein Sprung im Glas konnte einen den Urlaub kosten.
       Dann wurden bei allen Sendern die Uhrwerke ausgewechselt — als ob die was dafür konnten! Von nun an gab eine Rakete alle achtzehn Minuten Signale. Doch daran wäre noch nichts auszusetzen gewesen, ganz im Gegenteil. Viel schlimmer war, daß die beiden ältesten Offiziere an der Rampe standen und den Männern, ohne mit der Wimper zu zucken, alles abnahmen: pickende und tirilierende Vögel, kleine Schmetterlinge, Bienen, Geschicklichkeitsspiele. Alsbald türmte sich im Zimmer des Chefs ein Riesenberg an konfiszierter Konterbande. Böse Zungen behaupteten sogar, die Tür sei deshalb so oft abgeschlossen, weil der Chef mit dem Zeug spiele.
       Erst im Lichte dieser Ereignisse ließ sich die Meisterschaft des Piloten Pirx gebührend würdigen, dem es trotz alledem gelungen war, das Haus mit den Ferkelchen an Bord seiner Rakete zu schmuggeln. Daß ihm das, von dem moralischen Triumph einmal abgesehen, gar nichts nutzte, stand auf einem anderen Blatt.
       Der Patrouillenflug zog sich nun schon die neunte Stunde hin. Er zog sich hin, das ist sehr treffend gesagt. Pilot Pirx saß in seinem Sessel, von Gurten umwickelt und bandagiert wie eine Mumie, mit dem kleinen Unterschied, daß er wenigstens Hände und Füße frei hatte, und stierte apathisch auf die Bildschirme. Sechs Wochen lang waren sie in Zweiergruppen geflogen, in einem Abstand von dreihundert Kilometern, doch dann war die Basis wieder zu ihrer alten Taktik zurückgekehrt.
       Der Sektor war ja leer, absolut leer, und selbst diese eine Patrouillenrakete war schon zuviel darin. Aber auf den Sternenkarten durfte es keine »Löcher« geben, also wurden die Einzelflüge fortgesetzt. Pirx war als achtzehnter gestartet, von der Abschaffung der Zweierpatrouillen an gerechnet.
       In Ermangelung einer besseren Beschäftigung stellte er Überlegungen an, was Thomas und Wilmer wohl passiert sein mochte. In der Basis fielen ihre Namen nur noch selten, aber während des Fluges ist der Mensch so völlig mit sich allein, daß er sich sogar die fruchtlosesten Grübeleien leisten kann. Pirx flog nun schon seit fast drei Jahren (zwei Jahre und vier Monate, um genau zu sein) und hielt sich für einen alten Hasen. Die Astrolangeweile fraß ihn regelrecht auf, obwohl er nicht so schnell den Kopf verlor.
       Patrouillenflüge dieser Art wurden immer, und das nicht ganz zu Unrecht, mit der leidigen Warterei beim Zahnarzt verglichen; der einzige Unterschied bestand darin, daß der Arzt nicht kam. Die Gestirne rührten sich nicht vom Fleck, das war klar, und die Erde blieb gänzlich unsichtbar, es sei denn, man hatte ungeheures Glück, dann sah man sie als winzigen Rand eines blaugeklopften Fingernagels, und auch das

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