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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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Mündungsfeuer kam näher, und dann erblickte Pirx im Schein der Leuchtkugeln Langners gespenstische Silhouette. Schwäche übermannte ihn. Sein ganzer Körper bedeckte sich mit Schweiß. Er troff, als sei er gerade aus einem Bad gestiegen. Ohne die Leuchtpistole loszulassen, setzte er sich auf den Rand der Öffnung; er spürte, daß ihm die Knie zitterten. Er ließ die Beine in die Kammer baumeln und wartete, schwer atmend, bis Langner die Station erreichte.

       Das Ganze hatte sich folgendermaßen abgespielt: Pirx ging hinaus, und Langner beschäftigte sich in der Küche, ohne die Apparatur zu beobachten. Erst nach geraumer Zeit — wieviel Minuten vergangen waren, wußte er nicht zu sagen — fiel sein Blick auf die Instrumente. Das geschah zu der Zeit, als Pirx an seinem Reflektor herumbastelte. Als er aus dem Blickfeld des Radargerätes verschwunden war, begann der Automat den Neigungswinkel der Antenne zu verringern, und zwar so lange, bis das rotierende Strahlenbündel den unteren Teil des Sonnentores berührte. Langner erblickte dort einen Schimmer, den er für einen Skaphander hielt. Das magische Auge, das nur noch zitterte, weil Pirx in dem Bleischacht saß, bestärkte ihn in diesem Glauben. Er ist bewußtlos, er erstickt! dachte Langner. Er zog, ohne zu zögern, den Skaphander an und rannte hinaus.
       Der Radarschirm zeigte in Wirklichkeit die erste Aluminiumstange, die dicht über dem Abgrund stand. Langner hätte seinen Irrtum vielleicht erkannt, aber der »Schmetterling« schien den Hinweis des Radargerätes zu bestätigen.
       Die Zeitungen schrieben dann, eine elektronische Apparatur kontrolliere sowohl das »Auge« als auch das Radargerät. Es handelte sich um ein Elektronenhirn, das damals, bei der Katastrophe, den Atemrhythmus des Kanadiers Roget festgehalten habe. Jedesmal, wenn eine ähnliche Situation eintrete, wiederhole das Elektronenhirn diesen Rhythmus. Es sei also eine Art bedingter Reflex entstanden.
       In Wirklichkeit verhielt sich die Sache viel einfacher. Auf der Station gab es gar kein »Elektronenhirn«, sondern nur eine gewöhnliche automatische Anlage, die bar jedes »Gedächtnisses« war. Der »agonale Atemrhythmus« entstand, weil ein kleinerer Kondensator durchgebrannt war — das machte sich aber nur bemerkbar, wenn die Ausgangsklappe geöffnet wurde. Die Spannung sprang von einer Leitung in die andere, und im Netz des magischen Auges entstand ein Zittern. Nur auf den ersten Blick erinnerte das an das Atmen eines Sterbenden. Wenn man genauer hinsah, konnte man mühelos das unnatürliche Beben der grünen Flügel erkennen.
       Langner war auf dem Weg zum Abgrund — wo sich Pirx aufhielt, wie er glaubte. Er erhellte sich den Weg mit dem Reflektor, und an besonders schwierigen Stellen schoß er Leuchtkugeln ab. Zwei Abschüsse hatte Pirx bemerkt, als er zur Station zurückkehrte. Pirx wiederum begann nach vier oder fünf Minuten Leuchtkugeln abzufeuern, um Langner zurückzurufen — und damit hatte ihr Abenteuer ein Ende.
       Bei Challiers und Savage hatte sich die Sache anders abgespielt.
       Vielleicht hatte auch Savage — so wie Langner — seinem Gefährten zugerufen: »Beeil dich!«, aber es kann auch sein, daß Challiers sich nur deshalb so beeilte, weil er rasch wieder zu seiner interessanten Lektüre zurückkehren wollte oder weil er sich verspätet hatte. Wie dem auch sei — er hatte die Klappe nicht verschlossen. Das allein hätte noch keine schlimmen Folgen ausgelöst, auch nicht, wenn man den Fehler in der Apparatur berücksichtigte. Erforderlich war noch etwas anderes — ein zufälliges Zusammenspiel von Faktoren: Irgend etwas hatte auch Challiers bewogen, sich ein wenig länger im Schacht aufzuhalten — und zwar so lange, bis die Radarantenne, die sich bei jeder Umdrehung um mehrere Grade hob, die Aluminiumstange über dem Abgrund gefunden hatte.
       Was hatte Challiers aufgehalten? Das war nicht bekannt. Ein Schaden des Reflektors bestimmt nicht, das geschieht selten. Etwas jedoch hatte seine Rückkehr hinausgezögert, bis schließlich auf dem Schirm der fatale Schein aufgetaucht war, den Savage, wie später auch Langner, für einen Skaphander gehalten hatte. Die Verspätung betrug mindestens dreizehn Minuten — das wurde durch Versuche festgestellt.
       Savage ging zum Abgrund, um Challiers zu suchen. Challiers, der inzwischen vom Schacht zurückgekehrt war, fand die Station leer. Er erblickte das gleiche Bild wie Pirx und ging

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