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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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seinerseits hinaus, um Savage zu suchen. Vielleicht hatte Savage, als er am Sonnentor eintraf, zu spät bemerkt, daß das Radargerät nur die Metallstange erfaßt hatte, die im Geröll steckte. Vielleicht war er auf dem Rückweg gestürzt und hatte sich die Scheibe des Skaphanders zerschlagen. Andererseits war nicht auszuschließen, daß er den »Irrtum« der Apparatur nicht entdeckt hatte, sondern daß er nach vergeblicher Suche an eine steile Stelle geraten und abgestürzt war. All diese Einzelheiten ließen sich nicht aufhellen. Die beiden Kanadier waren jedenfalls umgekommen.
       Das Unglück konnte sich nur im Morgengrauen ereignet haben. Denn hätte es keine Störungen gegeben, wären die beiden jederzeit in der Lage gewesen, sich über Funk zu verständigen. Derjenige, der in der Station verblieben war, hätte zu diesem Zweck nicht einmal die Küche zu verlassen brauchen. Das Unglück konnte sich darüber hinaus nur bei offener Klappe ereignen, denn der Fehler in der Apparatur stellte sich nur ein, wenn diese Klappe unverschlossen war. Wenn man es besonders eilig hat, erreicht man oft das Gegenteil — man verliert mehr Zeit als gewöhnlich, man läßt einen Gegenstand fallen, man stößt sich...
       Das Radarbild ist nicht sehr deutlich. Eine Metallstange, die nahezu zwei Kilometer entfernt ist, läßt sich ohne weiteres mit einem Skaphander verwechseln. Wenn solche Umstände zusammentreffen, ist ein Unglück nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Der Zurückbleibende — fügen wir es der Vollständigkeit halber hinzu — hätte sich innerhalb der Station aufhalten können, wo immer er wollte, er hätte das Unglück nicht verhindert. Nur wenn er von Anfang an in der Funkstation gewesen wäre, hätte er gesehen, daß sein Gefährte keinesfalls in die Irre lief, und er hätte den Schein auf dem Schirm nicht für einen Skaphander gehalten.
       Challiers war nicht zufällig so nahe an der Stelle gefunden worden, an der schon Roget umgekommen war. Er war an der Stelle in den Abgrund gestürzt, die durch den Aluminiummast gekennzeichnet war. Der Mast stand dort, um vor dem Abgrund zu warnen; Challiers ging in diese Richtung, weil er glaubte, zu Savage zu gehen.
       Der physische Mechanismus des Vorfalls war von trivialer Einfachheit, er war das Ergebnis einer bestimmten Aufeinanderfolge von Zufällen — angefangen von der Funkstörung bis zur geöffneten Druckkammerklappe.
       Mehr Beachtung verdienten die psychologischen Faktoren. Als die Apparatur, ihrer äußeren Impulse beraubt, den »Atmungsschmetterling« in Bewegung setzte, hielt das zuerst Savage und dann Challiers für ein eindeutiges Zeichen. Savage glaubte Challiers in Gefahr, und Challiers bangte um Savage. Das gleiche wiederholte sich bei Langner und Pirx.
       Diese Schlußfolgerungen waren verständlich. Jeder der Männer kannte die Einzelheiten der Katastrophe, bei der Roget ums Leben gekommen war, jeder erinnerte sich an den entsetzlich langen Todeskampf des Unglücklichen, den das magische Auge festhielt.
       Wenn also — wie es in der Presse hieß — überhaupt ein bedingter Reflex vorlag, dann war er nicht in der Apparatur zu suchen, sondern bei den Menschen. Halb unbewußt glaubte ein jeder, Rogets Unglück sei im Begriff, sich zu wiederholen; es habe sich diesmal einen der Ihren als Opfer ausgesucht.

       »Nun, da wir alles wissen«, sagte Taurow, der Kybernetiker von der Ziolkowski-Station, »sagen Sie uns doch bitte, Kollege Pirx, wie Sie sich in dieser Situation zurechtgefunden haben. Sie sagen doch selbst, daß Sie den Mechanismus der Erscheinung nicht verstanden...«
       »Ich weiß es nicht«, antwortete Pirx. Durchs Fenster drang der grelle Schein der sonnenerhellten Gipfel. Ihre Spitzen ragten in das dichte Schwarz des Himmels wie Knochen. »Wohl durch die Klischees. Als ich sie sah, begriff ich, daß ich sie ebenso hingeworfen hatte wie Challiers. Vielleicht wäre ich dennoch hinausgegangen, wäre nicht noch eins gewesen: Das mit den Klischees konnte natürlich ein Zufall sein, aber wir hatten zum Abendbrot Eierkuchen — genauso wie die Kanadier an ihrem letzten Abend. Und das war ein bißchen zuviel. Ich denke also, daß uns die Eierkuchen gerettet haben...«
       »Die offene Klappe hing tatsächlich mit den Eierkuchen zusammen — die Eierkuchen trieben Sie zur Eile. Sie haben also ganz richtig überlegt, aber das hätte Sie nicht gerettet, wenn Sie der Apparatur blind vertraut

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