Die Entdeckung des Higgs-Teilchens: Oder wie das Universum seine Masse bekam (German Edition)
können, bedarf es eines Vorwissens über die historische Entwicklung der Teilchenphysik. Dazu ist es hilfreich, bis etwa zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzugehen, als sich mittels zahl- und variationsreicher Experimente die Struktur der Materie mehr und mehr offenbarte. Im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte konnten die Kenntnisse über den Aufbau des winzigen Atomkerns vervollständigt, konnten Protonen und Neutronen als Bausteine der Atomkerne identifiziert werden.
Dazu ist es unerlässlich zu wissen, wie die Untersuchung von radioaktiven Zerfallsprozessen zu der theoretischen Annahme zwang, dass es Teilchen gibt, die so gut wie gar nicht mit anderen Teilchen in Wechselwirkung stehen, die aber für die Verwandlung von Neutronen in Protonen und umgekehrt verantwortlich sind. Diese sogenannten Neutrinos müssen in wahrhaft astronomischen Ausmaßen in Sternen erzeugt werden, und zwar bei der Verschmelzung von Wasserstoffatomkernen zu Helium. Am Ende des 20. Jahrhunderts schließlich konnte ein erstes »Foto« vom Neutrinofluss der Sonne gemacht werden, wodurch sich die Theorie von den Sternen als Fusionsreaktoren bestätigte. Auch über die Entdeckungen des Aufbaus der Kernbausteine muss berichtet werden, über die Protonen und Neutronen, die aus Up- und Down-Quarks bestehen. Und noch über einige andere Teilchen mehr, die entdeckt wurden, was eine elegante Beschreibung aller Elementarteilchen möglich machte.
Noch bis zum Vorabend des 4. Juli 2012 hätte dieser triumphale Bericht der Teilchenphysik allerdings mit einer Kapitulationserklärung enden müssen: Es seien nun zwar alle Teilchen entdeckt, die von der Theorie vorhergesagt worden waren, aber diese so erfolgreiche Theorie sei nicht in der Lage, die Massen der Teilchen zu erklären.
Nun aber, mit der größten Maschine der Welt, ist es endlich möglich geworden, in die Energieräume vorzustoßen, wie sie ganz am Anfang des Universums herrschten und in denen die physikalischen Prozesse abliefen, durch die die Elementarteilchen im ganzen Kosmos ihre Ruhemassen erhalten haben. Diesen Zusammenhang hatte Anfang der 60er-Jahre eine Reihe von Theoretischen Physikern vermutet und folglich die Existenz eines überall im Universum vorhandenen Feldes gefordert, das den einzelnen Teilchen ihre Masse »vermittelt«. Einer ihrer Urväter, Peter Higgs, wurde zum Namensgeber für dieses Feld, dem ein oder mehrere Teilchen zugeschrieben werden, vergleichbar mit der Beziehung von Wasser und Welle.
Erst vor dem Hintergrund dieses Wissens wird verständlich, welches Schlüsselexperiment am Großen Hadronenbeschleuniger in der Schweiz stattgefunden hat und warum am 4. Juli 2012 die gesamte Welt der Physiker in befreienden Jubel ausbrach, als es hieß: »Wir haben es gefunden!« Ein wissenschaftliches Unternehmen der Extraklasse, einzigartig auf der Erde, einzigartig in seiner internationalen Vernetzung, hat unsere Kenntnis über die Struktur der kosmischen Materie einen gewaltigen Schritt nach vorne gebracht.
Wir Menschen lieben Erzählungen von Triumph und Tragödie, und eine solche ist sie, die Geschichte von der Suche nach den Grundbausteinen der Welt, von der Reise an die Grenzen der erkennbaren Wirklichkeit. Der gut informierte Leser mag sich erinnern an den Tag davor, als es um die Entdeckung der Weltkarte von Martin Waldseemüller ging, und vielleicht ergreift ihn am Ende ein Gefühl dafür, dass unsere Vernunft die Grenzen der Welt zwar nicht überspringen kann, dass sie aber das Instrument unseres Geistes ist, mit dem wir verantwortlich und sinnvoll die Welt erforschen, verändern und vielleicht sogar verbessern können. Möge er das Vertrauen darauf mit den Menschen teilen, die sich der Sache verpflichtet fühlen und nicht den ökonomischen Zielen eines wild gewordenen Kapitalismus, für den Erkenntnisse nur dann wertvoll sind, wenn sie sich in Heller und Pfennig auszahlen.
Higgs und der Journalismus
Matthias Helsen
Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.
Anfang Juli 1797 werden diese beschwörenden Worte niedergeschrieben. Warum Goethe sich die Satire Der Lügenfreund des spätantiken Autors Lukian als Vorlage für seinen Zauberlehrling nimmt, bleibt offen. Ob es sich um zeitgenössische Kritik handelt? Es liegt nahe. Zumindest ist davon auszugehen, dass Goethe mit diesem Gedicht verdeutlichen will, dass eben nicht jeder, der der deutschen Sprache mächtig ist, auch gleich ein
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