Die Entdeckung des Higgs-Teilchens: Oder wie das Universum seine Masse bekam (German Edition)
in der Schweiz , bekannt gegeben wurde, dass man höchstwahrscheinlich das Higgs-Teilchen entdeckt habe. Gegen zehn Uhr waren auf vielen Fernsehkanälen die glücklichen Gesichter von Fabiola Gianotti, Sprecherin des ATLAS-Experiments, und von Joe Incandela vom CMS-Experiment zu sehen, die die Forschungsergebnisse einer perplexen Weltöffentlichkeit vorstellten.
Und nicht nur das. Fast alle Medien titelten: »Das Gottesteilchen wurde entdeckt!« Ein ärgerliches Missverständnis, das aber nicht aus der Welt zu bringen war, machte aus einem physikalisch-abstrakten, instabilen energetischen Prozess eine Art religiöser Erleuchtung. Dabei hat das Higgs-Teilchen so viel mit Gott zu tun wie der viel zitierte Fisch mit dem Fahrrad.
Anfang der 90er-Jahre hatte der Physik-Nobelpreisträger Leon Lederman ein Manuskript angefertigt mit dem Titel »The Goddamn Particle« – das gottverdammte Teilchen. Es war der Bericht über die Anstrengungen der großen internationalen Konsortien bei der Erforschung der Grundlagen der Elementarteilchenphysik, über die auf gut Deutsch gesagt »gottverdammt« schwierige Suche nach dem Higgs-Teilchen. Und was macht sein Verleger daraus? Er streicht das Wort »damn« aus dem Titel, und schon wird aus dem nüchternen wissenschaftlichen Bericht ein Verkaufsschlager: »The God Particle« – das Gottesteilchen. Hier zeigte sich einmal mehr, wie die Medien die öffentliche Wahrnehmung von wissenschaftlicher Erkenntnis und Arbeitsweise beeinflussen.
Kaum war die Meldung in der Welt, da schwärmten Presse- und andere Medienvertreter aus, um Informationen einzusammeln, und auch ich musste zahlreiche Interviews geben. Dabei wurde ich vielfach mit einem leider oft spöttischen Desinteresse an der Sache konfrontiert, nach dem Motto: »Was haben die verrückten Elementarteilchenforscher denn da wieder entdeckt in ihren Maulwurfslöchern?« Nachrichten aus den Wissenschaften, zumal der Grundlagenforschung, haben häufig den Charakter von Meldungen über fast ausgestorbene indigene Völker, die man irgendwo im Amazonas-Regenwald oder auf Papua-Neuguinea bei ihren bis dahin völlig unbekannten Paarungsritualen erwischt hat.
Ansonsten wurde die Meldung über die Entdeckung des Higgs-Teilchens zum Anlass genommen, wieder einmal nach Sinn und Zweck von Grundlagenforschung zu fragen, wohl wissend, dass die Interviewpartner – oder sollte man sie besser »Interviewgegner« nennen? – hierauf in der Kürze der Zeit ganz sicher keine Antwort geben können, die sich in wenigen Worten pointiert formulieren lässt. Auch mit den allseits beliebten Fragen »Wo ist denn jetzt noch Platz für Gott?« oder »Was nützt uns das?« wurde ich wieder konfrontiert. Unter dem allgemeinen Zwang zur Zuspitzung und Verkürzung auf wenige prägnante Sätze und Schlagwörter, dem Redakteure, Journalisten und Medien ausgesetzt sind, sollte ich all diese drängenden Fragen mal eben in möglichst kurzer und prägnanter Form so beantworten, dass der interessierte Bürger auch alles versteht. Ein Ding der Unmöglichkeit!
Gespräche dieser Art sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn die Gesprächsteilnehmer sind nicht gleichberechtigt, der angebliche Dialog ist asymmetrisch. Der Reporter versteht sich als Anwalt des Laien, der den Grundlagenforscher fast anklagend nach dem Sinn seines Tuns befragt. Solche Interviews können schnell zum Tribunal werden. Der tagesaktuelle Journalismus interpretiert Wissenschaft häufig ohne die nötigen Hintergrundrecherchen – dazu fehlt die Zeit. Folglich werden mehr oder weniger ahnungslos Assoziationen geknüpft und Schlagwörter kreiert, die dann als Essenz wissenschaftlicher Arbeit gelten und sich in der Öffentlichkeit durchsetzen, weil sie angeblich einen sehr komplexen Zusammenhang auf den Punkt bringen. Die Missverständnisse, die sich aus diesen oft keineswegs sinnvollen sprachlichen Verdichtungen ergeben, müssen nicht problematisch werden, wenn den beteiligten Forschungsgruppen beziehungsweise ihren inzwischen so wichtig gewordenen Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit die Möglichkeit gegeben wird, den Sachverhalt klarzustellen. Meist fragt aber niemand mehr nach, denn schon einen Tag später haben längst andere Sensationsnachrichten den Wettlauf um das viel umkämpfte Interesse der Öffentlichkeit gewonnen. Der Inhalt, die Bedeutung, die Konsequenzen – kurz: das Wesentliche wissenschaftlicher Tätigkeit und Reflexion – werden leider oft genug dem Aktualitätsgebot des
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