Die Entdeckung des Higgs-Teilchens: Oder wie das Universum seine Masse bekam (German Edition)
Tagesjournalismus geopfert.
Völlig anders dagegen geht die Wissenschaft vor. Sie beschäftigt sich mit der langfristigen und möglichst tiefgehenden Erforschung der Welt, eben nicht unter den Augen der Öffentlichkeit, sondern hinter den Mauern von Forschungsinstituten, deren Bewohner auf den Laien vielleicht den Eindruck einer klösterlichen Gemeinschaft machen. In der Tat verlangt Wissenschaft nach einer kontemplativen Einstellung der beteiligten Personen; wir müssen fokussieren, wir müssen uns konzentrieren können.
Und weil es uns Wissenschaftlern aufgrund der Komplexität der Materie einfach nicht mehr gelingen kann, ein auch nur einigermaßen »richtiges« Bild moderner Physik sprachlich so darzustellen, dass es Laien verstehen können, öffnet sich der Graben zwischen Gesellschaft und Wissenschaft immer weiter. Was sich hinter den durchaus offenen Türen der Forschungsinstitute und Universitäten wirklich tut, was da passiert, mit welchen Zielen dort Menschen ihre Tage (und manchmal auch Nächte) verbringen, wissen die wenigsten. Manchmal, und vor allem auch an Tagen wie dem 4. Juli 2012, wenn ich als Professor für Theoretische Astrophysik zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen befragt werde, macht sich in mir das Gefühl breit, dass der Auftrag der Aufklärung »als der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« in der heutigen Zeit mit all ihrer Informationsflut seine ganz praktischen Grenzen hat. Die Forschungsarbeit der modernen Physik ist einfach viel zu weit entfernt von den Problemen unseres Alltags, ihre Methoden sind geradezu Lichtjahre entfernt von den Anschauungsformen der meisten Menschen, die sich nicht mit mathematischen und physikalischen Methoden und Theorien auseinandersetzen. Wie kann also durch wenige Worte auch nur einigermaßen plausibel erklärt werden, worum es bei solchen Schlagzeilen wie denjenigen vom Juli 2012 eigentlich geht?
Nein, hier braucht es doch mehr Worte, Worte, die den enormen Aufwand zu beschreiben vermögen, den Tausende Wissenschaftler für Tage, Wochen oder sogar Monate in unterirdischen Tunnelanlagen betrieben haben. Sie forschten und lebten eingepfercht zwischen Computern, kathedralengroßen Detektoren, einem unüberschaubaren Elektronikdschungel und riesigen supraleitenden, mit flüssigem Helium gefüllten Spulen, die, fast auf den absoluten Nullpunkt abgekühlt, superstarke Magnetfelder erzeugen. Dort unten in der Röhre wird auch weiterhin auf 27 Kilometer Länge das Höllenfeuer des beginnenden Universums freigesetzt und unter gewaltigem Aufwand so gezügelt, dass positiv geladene Teilchen auf fast überirdische Energien beschleunigt werden. Die Zusammenstöße dieser rasenden Boten der frühesten Phasen des Kosmos werden auf winzigste Spuren hin geprüft, die vielleicht ein Indiz für die mögliche Existenz eines Teilchens sein können – des Higgs-Teilchens. Hierbei handelt es sich um eine zeitraubende, weil sehr genaue, seriöse Analyse von hochkomplizierten Vorgängen, deren experimentelle Verwirklichung viele Jahre mit großem Aufwand vorbereitet werden musste und schließlich mit diesem großartigen Erfolg gekrönt wurde.
Natürlich war und ist all das ein irrwitziger technischer Aufwand: in gewaltigen Detektoranlagen die Zustände zu erzeugen, die gemäß der Theorie in den ersten Billionstelsekunden des Universums geherrscht haben müssen. Und ja, es ist eine gewaltige, beängstigende Menge an elektrischer Energie, die dort unten im Large Hadron Collider (LHC) zusammengezogen werden muss, um all das zu ermöglichen. Auch die Kosten dürfen ein Thema sein, wenn damit verdeutlicht werden kann, welche wissenschaftliche Dimension dieses Projekt hat.
Aber solche Informationen dürfen nicht die einzigen Nachrichten bleiben. Es müssen vielmehr die Relationen vermittelt werden, in denen das Projekt zu sehen ist. Schließlich waren wir gerade Zeitzeugen einer der größten Entdeckungen, die Menschen in diesem Universum überhaupt machen können. Was für einen Weg haben wir hinter uns gebracht, bis wir endlich das Higgs-Teilchen gefunden haben! Dieser Leistung gebührt ein Hymnus auf die Fähigkeiten unserer Vernunft!
Lediglich von einem 27 Kilometer langen Tunnel zu sprechen, in dem Milliarden von Euro versenkt werden, um ein Teilchen zu finden, das keinen wirtschaftlichen Nutzen hat, ist schlicht irreführend. Um das Projekt am Large Hadron Collider richtig einordnen, die Tragweite der neuen Erkenntnisse ermessen zu
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