Die Entfuehrung
ihre Mandeln herausgenommen worden waren.
Das nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie mit gefesselten Händen und Füßen aufgewacht war, den Mund mit einem Pflaster zugeklebt. Zuerst wusste sie wegen der Augenbinde gar nicht, ob sie wirklich wach war. Wenn sie die Augen schloss, sah sie nichts. Mit offenen Augen sah sie genauso wenig. Gestern oder vielleicht vorgestern war die Binde das erste Mal abgenommen worden. Der plötzliche Lichteinfall hatte ihre Augen total überfordert, und als sich die Pupillen langsam ans Licht gewöhnt hatten, sah sie einen Mann mit Skimaske. Sie hätte beinahe geschrien, aber mit dem Knebel ging das nicht.
Nach dem vierten oder fünften Mal wurde es zur Routine. Es half ihr, die Zeit einzuteilen, wie ein Ritual, das sie daran erinnerte, dass sie noch am Leben war. Der Mann kam und nahm ihr die Handschellen ab. Er führte sie eine Treppe hinauf ins Bad, nahm ihr den Knebel und die Augenbinde ab und ließ sie dann allein mit Seife, Waschlappen und Zahnbürste. Dann gab er ihr etwas zu essen. Es war jedes Mal ein bisschen weniger beängstigend, aber die Skimaske flößte ihr immer wieder Angst ein. Obwohl seine Stimme ja nicht gemein war oder so was. Er war wirklich freundlich und aufmerksam und fragte sie immer, ob sie Hunger hatte oder ob ihr kalt war. Nachdem er einige Male dagewesen war, konnte sie seine Stimme schon erkennen. Wenn die Männer oben sprachen, konnte sie seine Stimme heraushören. Bis jetzt konnte sie drei verschiedene Stimmen unterscheiden. Sie konnte nicht alles verstehen, was sie sagten, vor allem, wenn der Ofen an war. Aber sie hatte genug gehört, um zu wissen, dass er der einzige war, der sich darum kümmerte, dass sie sauber und satt war und nicht unnötig gequält wurde. Sie hatte sogar gehört, wie er einem der Männer gedroht hatte. Er hatte gesagt, keiner dürfte dem Mädchen weh tun. Er hieß Repo. Einer der Männer hatte ihn Repo genannt.
»Kristen«, hörte sie ihn sagen, »es ist Morgen.«
Es war Repo, und seine Stimme ließ sie schaudern. Sie zuckte zusammen, als er ihr vorsichtig die Augenbinde abnahm. Kristen machte langsam die Augen auf, dann blinzelte sie zur Decke. Die schwache Lampe auf der Kommode verbreitete ein diffuses Licht im Keller. Der Fensterladen an dem kleinen Fenster über dem Waschbecken machte es unmöglich, zu sagen, ob es Tag oder Nacht war. Sie hatte keine Ahnung, ob es tatsächlich Morgen war. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu glauben.
In der letzten Nacht war es unheimlich gewesen. Er hatte einige Minuten geredet, wie lange genau, wusste sie nicht. Der Unterton in seiner Stimme hatte sie nervös gemacht. Nicht dass er etwas Schlimmes gesagt hätte. Aber selbst wenn er kein Entführer war, so war sie doch grundsätzlich misstrauisch gegenüber jedem Fremden, der ihr erzählen wollte, dass sie bei ihm sicher war.
Sie starrte auf einen Riss in der Decke. Der Mann stand so vor der Lampe, dass er einen Schatten auf das Bett warf und Kristens Oberkörper fast im Dunkeln lag. Sie wagte nicht, zu ihm hinzusehen, und fand nicht den Mut, ihren Kopf wieder in seine Richtung zu drehen. Als er in der vergangenen Nacht ihre Augenbinde abgenommen hatte, hatte sie ihn flüchtig ohne die Skimaske gesehen. Sie wollte nicht mehr von ihm sehen. Aber als es ruhig blieb, reizte es sie doch, einen Blick zu riskieren, so wie Kinderaugen manchmal spätabends voller Neugier unter der Bettdecke hervor lugen.
Kristen Howe fürchtet sich nicht, wiederholte sie ihr Mantra. Dann drehte sie ihren Kopf doch ein klein bisschen nach links.
Sie hielt den Atem an und unterdrückte ihre Angst. Sie hatte dasselbe schon vergangene Nacht gesehen, aber sie erschrak wieder. Er trug ein Handtuch oder so was um sein Gesicht. Sie sah weg und schloss die Augen ganz fest.
Ihre Hände zitterten, und sie hatte mit ihrer Verwirrung zu kämpfen. Er fing an, von der Gewohnheit abzuweichen, freundlicher zu werden - als wollte er, dass sie redete. Sie sprach nie mit Fremden, und schon gar nicht mit Schlangen. Und sie wusste, dass »Fremde« nicht einfach Perverse waren, die auf Spielplätzen herumhingen und denen der geifernde Schleim vom Kinn tropfte. »Sag nein, lauf weg, und erzähle es einem Erwachsenen« - diese Regel hatte ihre Mutter ihr eingeschärft. Mit dieser Regel ließ sich gut leben, solange man nicht entführt wurde. Aber wie soll sich ein Kind verhalten, nachdem so was passiert ist?
»Ich werde jetzt den Knebel abmachen«, sagte
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