Die Entfuehrung
er ruhig.
Gott, dachte sie. Noch eine Abweichung von der Regel. Erwartete er, dass sie etwas sagte? Oder dass sie etwas tat. Sie machte sich ganz steif, als er das Pflaster entfernte und ihren Mund befreite. Sie bemühte sich, ihr Mantra zu wiederholen und sich daran zu erinnern, dass sie sich nicht fürchtete. Aber sie war zu erschrocken, um sich an die einfachen Worte zu erinnern, geschweige denn daran zu glauben. Sie könnte ja schreien, aber das ergab keinen Sinn. Die einzigen, die sie hören konnten, waren die anderen Entführer. Und zwar die bösen. Zumindest schien dieser Repo nett zu sein.
Ihr Herz raste. Schreien war eine schlechte Idee. Er könnte in Panik geraten und ihr weh tun. Vielleicht blieb er ja ruhig, solange sie ruhig war - oder zumindest so tat, als wäre sie ruhig. So tun als ob - das war's! Das war die Lösung. Die Leute hatten immer gesagt, sie wäre in der Lage, in Jamaica Schneestiefel zu verkaufen, wenn sie es wollte. Mit ihrem Charme hatte sie es sogar geschafft, Reggie Miles dazu zu überreden, sie zu Fuß zur High-School gehen zu lassen.
Reggie? dachte sie. Was ist mit Reggie passiert? Lieber Reggie. Der Großvater, den sie nie gehabt hatte. Der einfache, aber weise alte Mann, der ihr gesagt hatte, dass sie mit ihren zwölf Jahren aussah wie einundzwanzig und dass sie dazu geboren war, eine Herzensbrecherin zu sein, die mit ihrem Charme alle Situationen meistern würde.
Vielleicht stimmte das ja. Vielleicht konnte sie ja auch diese Situation meistern und ihren Charme spielen lassen, damit die Schlange sie gehenließ. Dafür müsste sie aber mit ihm reden. Sie müsste sogar nett zu ihm sein. Sie müsste ihm vielleicht sogar schmeicheln.
Auf keinen Fall! Das durchzuziehen, hatte sie zu viel Angst. Sie hatte sogar zu viel Angst zu reden. Im Moment fühlte sie sich verloren, gelähmt vor Angst. Sie dachte an ihr Mantra - sag dein Mantra. Aber sie hatte die Worte vergessen. Endlich hörte sie sie - wie eine Botschaft von innen.
Kristen Howe, fürchte dich nicht, sagte die innere Stimme.
In ihrem Rückgrat kribbelte es. Es hörte sich dieses Mal anders an, nicht wie ihre eigene Stimme oder die ihrer Mutter. Die Stimme kam von innen her - sie war freundlich und beruhigend, hüllte sie ein wie die Umarmung eines Freundes von einem weit entfernten und sicheren Ort her, einem Ort vom Ende der Welt. Die Stimme existierte nur in ihrer Vorstellung, aber sie wärmte ihren ganzen Körper, vertrieb ihre Angst und gab ihr die Kraft, genau das zu tun, was nötig war war.
Es war die Stimme von Reggie Miles.
»Zeit, zu frühstücken«, sagte Repo.
Sie bekam einen Kloß im Hals. Würde sie sich trauen zu reden? Hör auf die Stimme, sagte sie zu sich selbst. Hör auf Reggie. Ihr Mund bemühte sich, Worte zu formen - irgendwelche Worte, das erste, was ihr in den Sinn kam. »Könnte -könnte ich heute vielleicht Cornflakes haben?« fragte sie ruhig.
»Natürlich, welche möchtest du?«
»Froot Loops.« Es zog sich alles in ihr zusammen. Eigentlich mochte sie die nicht besonders, aber ihr war nichts anderes eingefallen. »Ich werde dir welche besorgen.«
Oben klapperte irgend etwas, und sie erschrak. Eine Tür quietschte oben, vielleicht im Bad oder im Schlafzimmer. Einer der anderen Männer war in jedem Fall wach.
Repo sagte: »Ich muss jetzt gehen. Aber ganz egal, was passiert, du darfst den anderen nichts davon sagen, dass wir miteinander geredet haben. Verstanden?«
Sie nickte ängstlich und hielt den Atem an, als er ihr vorsichtig wieder die Augenbinde und den Knebel anlegte. Als seine Absätze auf der Treppe klapperten, zählte sie seine Schritte. Die Tür wurde geöffnet, dann geschlossen. Er war weg.
Das war gar nicht so schlecht, dachte sie. Sie hatte den ersten Schritt gemacht, ein Gespräch begonnen. Vielleicht war dieser Repo wirklich ihre Fahrkarte nach draußen. Vielleicht tat er ja nicht nur so, als wäre er nett. Immerhin hatte sie ja durch den alten Holzboden mitgehört, wie die Männer geredet hatten. Sie hatte sogar gehört, wie er sich gegen die anderen behauptet hatte. Dass er nicht zulassen würde, dass sie ihr weh täten.
Plötzlich wurde sie von Panik erfasst. Sie hatte einen Fehler gemacht.
Kristen Howe fürchtet sich nicht, sagte sie zu sich. Sie begann zu zittern bei dem Gedanken, was wohl die anderen Schlangen tun würden, wenn Repo losginge, um Froot Loops zu kaufen.
Die Limousine hielt an der Ampel nah am Pennsylvania-Viertel. Allison saß alleine mit ihren
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