Die Entfuehrung
zum Opfer gefallen war, hatte am Vorabend der Wahl aber nur die Bedeutung einer Fußnote im Vergleich zum eigentlichen Ereignis. Kristen Howe war gerettet, und Allison Leahy hatte sie befreit. Das war alles, was Harley Abrams und Tanya Howe der Presse mitteilten. Diese Schlagzeile führte dazu, dass Lincoln Howe sich gut in einen gewissen republikanischen Gouverneur namens Dewey hineinversetzen konnte, der seinerzeit am Vorabend der Wahl mit der Überzeugung ins Bett gegangen war, er hätte Harry Truman besiegt.
Allison wollte diese Halbwahrheit nicht so stehenlassen.
Um 23:15 Uhr Ortszeit gab sie im überfüllten Pressezimmer des Justizministeriums eine kurze Presseerklärung ab. »Mit großer Scham und tiefem Bedauern« teilte sie dem amerikanischen Volk mit, was es zu erfahren verdient hatte - dass ihr verstorbener Ehemann der Drahtzieher von Kristen Howes Entführung gewesen war.
Beklommenes Schweigen befiel die Fernsehzuschauer im ganzen Land, dann folgte eine Explosion von Fragen der Reporter. Allison beantwortete keine von ihnen. Erschöpft zog sie sich in die Schlafkammer ihrer Bürosuite zurück und überließ es den Wählern, am Dienstag darüber zu entscheiden, ob sie eine Heldin, ein Opfer oder eine Mischung aus beidem war.
Sie ruhte sich bloß ein paar Stunden aus. Um 5:00 Uhr morgens flog sie mit dem Jet des Justizministeriums nach New York. Harley Abrams kam mit ihr. Sie musste ihn nicht erst dazu überreden. Anders hätte er es gar nicht gewollt.
Um 8:00 Uhr waren sie auf dem Weg zur Ellington Prep School. Es war die Schule gewesen - das rote Ziegelgebäude im Hintergrund auf Gambrellis Foto -, die das FBI zu Emily geführt hatte. Im Labor war etwas entdeckt worden, was mit dem bloßen Auge nicht zu sehen war - eine Gedenkplakette zu Ehren des Schulgründers, die neben der Tür angebracht war. Mit der Schule hatten sie auch Emily gefunden.
Der Sedan hielt direkt gegenüber vom Schulhof. Verdorrtes Gras und kahle Eichen waren hinter dem Maschendrahtzaun zu sehen. Mütter und Väter begleiteten ihre Kinder zum Schultor und entließen sie in einen neuen Schultag. Harley parkte auf der anderen Straßenseite in der Nähe des Fußgängerüberwegs und stellte den Motor ab. Allison saß schweigend auf dem Rücksitz, gestikulierte aber mit der Hand und führte eine leise, imaginäre Unterhaltung. »Mit wem reden Sie da eigentlich?« fragte Harley. »Was?«
»Mit wem reden Sie?«
Ihr Kopf rollte zurück, und sie seufzte betrübt. »Ach, Gott, ich wollte Emily gerade erklären - « Sie unterbrach sich. »Sie heißt nicht einmal Emily. Sie heißt April. April Remmick. Das einzige Kind von Henry und Elizabeth Remmick. Zwei anständige, hart arbeitende Menschen, die keine Ahnung davon hatten, dass das kleine Mädchen, das sie vor acht Jahren adoptierten, gar nicht aus Russland gekommen war, sondern mir gestohlen wurde.« Sie verzog vor Kummer das Gesicht. »Sie sind eine Familie, Harley. Welches Recht habe ich, in diese Familie einzubrechen?«
»Sie sind Aprils Mutter, das gibt Ihnen das Recht.«
Er stieg aus dem Wagen aus. Allison blieb sitzen. Sie sah durch die Windschutzscheibe, wie er vorne um ihren Wagen herumging. Sie verriegelte die Tür, als er sich anschickte, sie zu öffnen.
Er klopfte ans Fenster. »Allison, steigen Sie aus.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Allison, wir sind da.«
»Aber wenn ich sie sehe...« Die Stimme versagte ihr. Sie ließ die Augen zum Schulhof wandern, der vierzig Meter entfernt war. Die Kinder hatten sich in Reihen aufgestellt, um hineinzugehen - Jungs und Mädchen, alle in Schuluniform. Ein Mädchen jedoch schien sich in Allisons Blickfeld von den anderen abzuheben. Es sah aus, als hätte sie eine andere Uniform an. Als wäre sie allein auf dem Schulhof.
Allison entriegelte die Tür und stieg aus. Langsam überquerte sie die Straße, Schritt für Schritt. Die ganze Zeit über ließ sie das kleine blonde Mädchen mit der rosa Mütze und den roten Kniestrümpfen nicht aus den Augen. Sie war die dritte in einer Reihe von zwölf Kindern, die sich alle der Größe nach aufgestellt hatten. Allison blieb am Zaun stehen, ergriff mit beiden Händen die Maschen und starrte. Es waren nur dreißig Meter.
Harleys Schritte hallten hinter ihr auf dem Gehweg.
Sie konnte den Blick nicht abwenden. »Das ist sie«, sagte sie.
»Sie sieht aus wie auf dem Foto.«
»Ich glaube, irgendwie hätte ich es auch so gewusst, dass sie es ist, auch ohne das Foto. Ich spüre so etwas wie eine
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