Die Entmündigung (German Edition)
deren schmutziger, fast immer zerrissener Rand noch ein Zeichen mehr dafür war, wie er seine Person vernachlässigte. Wer den Justizpalast in Paris zu besuchen pflegt, den Ort, wo man alle Abarten der schwarzen Kleidung beobachten kann, wird sich das Aussehen Popinots vorstellen können. Die Gewohnheit, ganze Tage hindurch Sitzungen abzuhalten, übt eine starke Wirkung auf den Körper aus, ebenso wie die Langeweile, die die endlosen Plaidoyers hervorrufen, die Physiognomie der Richter beeinflussen. In lächerlich kleine Zimmer eingeschlossen, ohne jede architektonische Wirkung, wo die Luft schnell verdorben ist, wird das Gesicht des Pariser Richters vom Aufmerken runzelig und faltig und von der Langeweile verdüstert; er wird bleichsüchtig und sein Teint grünlich oder erdfarben, je nach dem Temperament des einzelnen. Schließlich wird nach einer gewissen Zeit der blühendste junge Mann eine blasse Maschine zum Abstimmen, ein Mechanismus, der den Code auf jeden einzelnen Fall anwendet mit dem Phlegma eines Uhrpendels. Wenn also die Natur Herrn Popinot ein wenig angenehmes Äußern verliehen hatte, so hatte ihn auch sein Amt nicht verschönert. Sein Knochengerüst zeigte krumme Linien. Seine dicken Knie, seine großen Füße, seine breiten Hände paßten schlecht zu seinem priesterlichen Gesicht, das von fern an einen Kalbskopf erinnerte, sanft bis zur Schwäche, schlecht von zwei glasartigen Augen erhellt, blutleer, von einer graden, platten Nase durchschnitten, von einer Stirn ohne Vorsprünge überwölbt und mit zwei riesigen Ohren ausgestattet, die reizlos angewachsen waren. Sein dünnes, schwaches Haar ließ seinen Schädel an mehreren Stellen durchschimmern. Ein einziger Zug empfahl dieses Gesicht dem Physiognomiker. Der Mann besaß einen Mund, dessen Lippen eine himmlische Güte atmeten. Er hatte gute, dicke, rote Lippen mit tausend Fältchen, geschweift und beweglich, die edle Gefühle verkündeten; Lippen, die zum Herzen sprachen und bei diesem Manne Intelligenz, Klarheit, die Gabe des zweiten Gesichts und eine Engelsgüte verrieten: man hätte ihn also falsch verstanden, wenn man ihn nur nach seiner niedrigen Stirn, seinen kalten Augen und seiner jämmerlichen Haltung beurteilen wollte. Sein Leben entsprach seinem Gesicht, es war voll heimlicher Arbeit und verbarg die Tugend eines Heiligen. Bedeutende juristische Abhandlungen hatten ihn, als Napoleon die Justiz in den Jahren 1806 und 1811 reorganisierte, so sehr empfohlen, daß er auf den Vorschlag Cambacérès' unter den ersten für den Obergerichtshof von Paris vorgeschlagen wurde. Aber Popinot war kein Intrigant. Bei jeder neuen freien Stelle, bei jeder neuen Bewerbung schob der Minister Popinot zurück, der niemals einen Schritt bei dem Erzkanzler oder dem Großrichter tat. Vom höchsten Gerichtshof wurde er auf die Liste der übrigen Richterstellen gesetzt und dann durch die Intrigen tätiger und beweglicher Leute bis auf die unterste Stufe heruntergedrückt. Er wurde zum Hilfsrichter ernannt. Diese Ungerechtigkeit war ein Schlag für die Richterwelt, die Advokaten, die Gerichtsvollzieher, für alle Welt, ausgenommen Popinot, der sich nicht darüber beklagte. Als der erste Lärm vorüber war, fand jeder, daß es mit allem zum besten in den besten aller möglichen Welten stände, die sicherlich die Welt der Justiz sein muß. Popinot blieb Hilfsrichter bis zu dem Tage, wo der berühmteste Großsiegelbewahrer der Restauration die Zurücksetzungen wiedergutmachte, die diesem bescheidenen und schweigsamen Mann von den Großrichtern des Kaiserreichs angetan worden waren. Nachdem er zwölf Jahre lang Hilfsrichter gewesen war, sollte Herr Popinot nun jedenfalls als einfacher Richter am Seine-Tribunal sterben.
Um bei einem so hervorragenden Juristen das Verbleiben im Dunkeln zu erklären, ist es notwendig, hier einige erforderliche Erwägungen anzustellen, die dazu dienen werden, sein Leben zu enthüllen und im übrigen einiges von dem Räderwerk der großen Maschinerie, die die Justiz genannt wird, aufzuzeigen. Herr Popinot wurde von den drei auf einander folgenden Präsidenten des Seinetribunals unter den Begriff der »Kritteler« eingereiht, dem einzigen Worte, das diese Kategorie bezeichnen kann. In dieser Gesellschaft konnte sein Ruf, den er sich vorher durch seine Arbeiten verdient hatte, nicht aufkommen. Ebenso wie ein Maler unabänderlich in die Kategorie der Landschafter, der Porträtmaler, der Geschichts-, Marine- oder Genremaler von dem Publikum
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