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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Christo
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Nella wusste es besser. Ihr zuliebe hatte Blanche sie begleitet. Nicht viele Menschen stellten ihre eigenen Bedürfnisse zurück, um anderen eine Freude zu bereiten. Blanche war so jemand. Nella war es egal, was andere über ihre Freundin dachten, für sie war Blanche ein Engel. Zugegeben, einer mit einer ziemlich großen Klappe und meist schlechter Laune, aber immerhin.
    Und dann war da noch Enzo. Davon abgesehen, dass sie über beide Ohren in ihn verliebt war, gab es keine Worte für das, was er für sie getan hatte. Neben Blanche war er der Einzige, der sie wirklich sah, sie, nicht die Prostituierte. Ihre Latexverkleidung konnte ihn nicht abschrecken, er hatte sie auf den ersten Blick durchschaut. Hatte tiefer gesehen, ihr Schutz angeboten und sie von Pierre befreit, ihrem Zuhälter, der sie jahrelang wie eine Weihnachtsgans ausgenommen hatte. Er war für sie da gewesen, hatte sie gehalten, wenn sie im Schlaf geweint, und danach stundenlang nicht einschlafen konnte. Enzo war einer der wenigen Menschen, der sie trotz ihrer Vergangenheit bedingungslos annahm, das würde sie ihm nie vergessen.
    Sie sprang auf die Gleise, um sich dem Bahnhof von der Rückseite zu nähern, als sie von einem starken Wind erfasst wurde. Nein, kein Wind, ein Sog, der sie ins Innere des Sacksbahnhofs zog. Instinktiv drückte sie Brutus fester an sich und ging in die Hocke, um dem Luftstrom möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Sie murmelte ihrem Liebling beruhigende Worte zu, und irgendwie auch sich selbst, als ein ohrenbetäubender Knall das Heulen des Windes durchschnitt und die Erde erbeben ließ. Gleichzeitig zerplatzte über ihr ein Licht, hell wie eine Sonne.
    Nella hob den Kopf und machte große Augen.
    Der Himmel über ihr war im wahrsten Sinne des Wortes explodiert, als hätte es einen Stern zerrissen, der nun in Milliarden Einzelteile an der Atmosphäre zerschellte.
    Ein kosmisches Feuerwerk.
    Von einem Moment zum Nächsten versiegte der Wind und die Luft stand still. Gleichzeitig wurde die Nacht taghell, während zahllose Bruchstücke des Sterns gegen die Erdatmosphäre prallten, wo sie ein neues Feuerwerk entzündeten. Es war wunderschön und schrecklich zugleich.
    Etwas Gewaltiges war zerstört worden, es musste sterben, damit Neues entstehen konnte. Tränen rannen über ihr Gesicht, als sie die Analogie zu ihrem Leben erkannte. Vielleicht verlor sie den Verstand, womöglich lag es auch an ihrer Ergriffenheit, die diese Gedanken formte. Eine Epiphanie, im Angesicht dieses Naturschauspiels, die ihr einen klaren Blick auf ihr Leben lieferte, ohne Wenn und Aber.
    Die alte Nella musste ebenfalls sterben, um der neuen Platz zu machen. Sie konnte sich nicht gleichzeitig verachten und lieben, so funktionierte das nicht. Schluchzend drückte sie das Gesicht in Brutus’ Fell, der winselnd ihre Wange leckte. Nella küsste seine Stirn und strich mit der freien Hand über den bandagierten Rücken.
    Schon seltsam. Wer dieser Hund war, bevor sie ihn fand, hatte für sie keine Bedeutung. Ob er kleine Kinder gefressen oder Priestern die Kutte zerfetzt hatte, interessierte sie nicht die Bohne. Für sie zählte einzig, wer er jetzt war, ihr Brutus – was scherte sie seine Vergangenheit?
    Warum konnte sie über sich nicht ebenso denken? Weshalb fiel es ihr so schwer, sich frühere Fehler zu verzeihen und noch einmal von vorn anzufangen?
    Ihr Schluchzen nahm zu, und Brutus jaulte kläglich in ihrem Arm, als würde er mit ihr trauern, was ihre Tränenflut nicht gerade versiegen ließ. Nella weinte wie nie zuvor in ihrem Leben, während der Asteroidenhagel unaufhaltsam die Erdatmosphäre bombardierte.
    Gleichzeitig blickte sie auf ihr Leben und das Leid, das sie ertragen musste. Prügel, Schmerzen und Erniedrigung. In diesem Moment war es so überdeutlich, als würde jemand die grausamen Bilder in ihren Geist projizieren. Sequenzen ihres Lebens, die sie verdrängt hatte, weil sie die Vergangenheit nicht ertragen konnte. Aus unerklärlichen Gründen war der Damm gebrochen, und nun gab es kein Zurück.
    Wie ein vergifteter Kuchen brannte ihr die Hoffnung der Zwölfjährigen von damals Löcher in den Magen. Als sie die Erinnerung an ihre erste Vergewaltigung einholte, beugte sie sich vor und übergab sich lauthals.
    Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, vermutlich keine fünf Minuten. Nachdem sich ihr Mageninhalt über die Bahnschwellen verteilt hatte, fühlte sie sich besser. Stillschweigend verabschiedete sie sich von der Nella,

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