Die Entscheidung
die sie gewesen war, streifte sie wie eine alte Haut auf den Gleisen des Nordbahnhofs ab und wurde zu etwas Neuem. Was das war, wusste sie nicht. Wer sie war, würde sich zeigen. Für sie war so etwas wie ein Wunder geschehen, denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie keine Angst.
Schwankend setzte sie sich auf und nahm einen zittrigen Atemzug. Sie hatte sich so an das Korsett der Furcht gewöhnt, dass ihr die Welt überraschend farbenfroh vorkam, fast zu grell. Alles wirkte leichter, selbst das Atmen. Vorsichtig stand sie auf und gab Brutus einen Kuss zwischen die Ohren, bevor sie ihn zurück auf den Boden setzte. Am liebsten hätte sie gelacht, und kaum hatte sie den Gedanken formuliert, fing sie auch schon damit an.
Drehte sie jetzt durch? War dies der viel beschworene Nervenzusammenbruch, von dem sie so oft gehört, dessen Luxus sie sich bisher jedoch nie erlaubt hatte? Doch es nützte nichts, sie legte den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals. Mann, das fühlte sich gut an. Wann hatte sie das letzte Mal so frei gelacht? Sie konnte sich nicht erinnern, was ihr Antwort genug war.
Sie warf einen letzten Blick auf das kosmische Schauspiel, denn noch immer trommelten Sternschnuppen auf die äußere Lufthülle der Erde. Dann verstärkte sie den Griff um Brutus Leine und machte sich auf den Weg in den Bahnhof.
Ihr sechster Sinn verriet ihr, dass, was immer hier gerade ablief, alles miteinander zu tun hatte. Die Attentate der letzten Wochen, die Zerstörung des Ritz ’ und des Eiffelturms – und Blanche. Irgendwie war sie darin verwickelt, auch wenn sie nicht sagen konnte, wie.
Es fing alles mit Waynes Tod an, seitdem war nichts mehr, wie es war. Paris, die Metropole, die sie so gut kannte, entwickelte sich mehr und mehr zur Geisterstadt. Der Krieg der Organisationen war eskaliert, Gebäude flogen in die Luft, ganze Straßen verschwanden, und immer, wenn es passierte, war Blanche in der Nähe.
Nachdem sie das Ende der Schienen erreicht hatte, hob sie Brutus auf die Plattform, und machte Anstalten, ihm zu folgen.
Sein Knurren ließ sie aufschauen. Einige von Marcels Männern standen am Geländer des Eurostar Terminals und riefen ihren Kameraden Anweisungen zu. Zwei weitere joggten die Treppe hinunter zu Blanche und Andrej. Ihr ukrainischer Freund war zusammengebrochen und lag im Cam’s Armen.
Als Nella ihre Freundin erkannte, stieß sie ein erleichtertes Seufzen aus. Doch etwas stimmte nicht. Blanche hatte sich erhoben, und blickte mit steinerner Miene auf etwas jenseits des Bahnsteigs. Oder Jemanden.
Brutus’ Knurren intensivierte sich, wurde tiefer, eindringlicher.
„Pscht!“, machte sie und erklomm die erste Sprosse der Leiter.
Anstatt auf sie zu hören, ging Brutus in Angriffsposition, sein Knurren nun gefährlich leise. Sie kannte das Geräusch. Er stand kurz davor, jemanden anzufallen, das fehlte noch. Als sie die zweite Sprosse nahm, entdeckte sie den Mann, den Blanche mit wachsendem Entsetzen anstarrte, und der sich ihr mit langen Schritten näherte. Etwas an ihm kam ihr bekannt vor, doch ihr fiel nicht ein, was.
Blanche machte ein paar unsichere Schritte auf ihn zu, der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Wenige Meter vor ihr blieb er stehen und breitete die Arme aus, als wollte er seinen verlorenen Sohn begrüßen. Oder Tochter.
Brutus Knurren verwandelte sich in Blutdurst, und endlich begriff sie, wen er mit offensichtlichem Hass jeden Moment in Stücke r eißen würde.
Oh. Mein. Gott.
Ihr Hals wurde raspeltrocken, sie bekam keinen Ton heraus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch bevor sie die Leine zu fassen bekam, machte Brutus einen Satz. Er hechtete auf den Mann zu, sprang, und verbiss sich in seinen Bauch. Er zog und zerrte, bis der schwarze Rolli riss und Blut spritzte. Der Mann hatte ein Messer gezogen – wo kam das plötzlich her – und stach auf Brutus ein, doch der Hund war wie von Sinnen. Er zerfetzte die Bauchdecke, rupfte Eingeweide heraus, bis der Mann auf die Knie fiel und eine Knarre zog.
Nellas Blut wich aus ihrem Gesicht, sie hatte das Gefühl, zu fallen. Ihr Hoch von eben war wie weggeblasen, am liebsten hätte sie sich gleich wieder übergeben. Wie in Trance wandte sie den Kopf und sah zu Blanche, die ihren entsetzten Gesichtsausdruck spiegelte.
Ihre Lippen formten ein Wort, und obwohl sie es geflüstert hatte, erkannte Nella den Namen.
Wayne .
*
Nachdem Lucas angerufen hatte, war der Abend den Bach runtergegangen. Also, noch
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