Die Entscheidung der Hebamme
nun bin ich edelfrei und Frau des Burgvogtes.
Genauso unglaublich, wie sich ihr eigenes Leben verändert hatte, erschien ihr auch der gewaltige Wandel, den das Dorf durchlebt hatte. Anfangs gab es hier nur eine kleine Lichtung und ringsum dichten Wald. Unter Mühen hatten die Siedler an ein paar einzelnen Stellen gerodet, um im ersten Jahr wenigstens noch etwas Getreide aussäen zu können, und Lehmkaten gebaut. Jetzt ließ sich nur noch an der Dorflinde erkennen, wo damals der kleine Weiler für die vier Dutzend fränkischen Siedler angelegt worden war. Und wer von den ersten Christiansdorfern noch am Leben war, der arbeitete längst nicht mehr auf dem Feld, sondern zumeist in einer Grube oder an der Scheidebank.
Der Ort war schon größer als manche junge Stadt, hatte eine Burg, drei Kirchen, ein Kaufmannsviertel, und nun sollte auch noch das Burglehen eine eigene Kirche bekommen. Mit weiteren hundert oder zweihundert Bergleuten aus dem Harz, rechnete sie die Frauen und diejenigen Kinder ab, die noch zu klein waren, um an den Scheidebänken zu arbeiten, würden sie die Förderung vielleicht fast verdoppeln können.
Sie würden so wohl Christians altem Traum ein ganzes Stück näher kommen: dass dem von ihm gegründeten Dorf Stadtrecht übertragen wurde – ganz gleich, ob es Josef passte oder nicht.
Ob es Christian wohl gutging? Elf Jahre waren sie nun verheiratet, und obwohl oder gerade weil sie ihn oft wochenlang nicht sah, wenn er in Ottos Auftrag unterwegs war, liebte sie ihn so innig wie an dem Tag, als sie zueinandergefunden hatten. Wie lange mochte ihnen in diesen unruhigen Zeiten noch Glück beschieden sein? Bei diesem wehmütigen Gedanken fühlte sie einen jähen Schmerz, als würde ihr Herz von einem Messer durchbohrt, und sie krümmte sich zusammen.
Sofort war Mechthild zur Stelle, die anscheinend ihre Herrin nicht aus den Augen gelassen hatte, weil es ein zu ungewohnter Anblick war, sie untätig draußen herumsitzen zu sehen.
»Geht es Euch nicht gut?«, fragte sie besorgt.
Marthe atmete tief durch. Der Schmerz ebbte ab, und sie weigerte sich, darüber nachzudenken, was er zu bedeuten hatte. Stattdessen lauschte sie in sich hinein, um vor ihrem geistigen Auge das Bild wachsen zu sehen, wie sich Christian mit seinen Schutzbefohlenen dem Dorf näherte.
Hastig stand sie auf, um Mechthild zu beschwichtigen. Ihr schwindelte.
»Die Ruhe vor dem Sturm«, meinte sie, mühsam lächelnd.
Mechthild warf einen skeptischen Blick auf sie und wollte wieder an ihre Arbeit, mit jenem merkwürdigen watschelnden Gang, den sie sich in letzter Zeit zugelegt hatte. Doch Marthe rief sie zurück.
»Wir gehen jetzt in die Kräuterkammer, um etwas gegen das Wasser in deinen Beinen zu unternehmen«, sagte sie energisch. »Und dann überlegen wir, wer künftig einen Teil von deiner Arbeit übernimmt.«
Erwartungsgemäß protestierte Mechthild, vor allem gegen Marthes zweites Vorhaben. Doch die kannte keine Gnade.
Ohne sich um Mechthilds Einwände zu kümmern, wies sie Richtung Kammer. Ihr entging nicht das Feixen des jungen Christian darüber, dass jemand der wortgewaltigen Mechthild Paroli bot, und so warf Marthe ihm einen strengen Blick zu. Das ließ das belustigte Grinsen auf dem Gesicht des Stallknechtes augenblicklich verschwinden.
Wenn auch die jungen Burschen über Mechthild witzelten – die gestrenge Köchin verdiente ihren Respekt.
In der Kammer verabreichte Marthe ihr eine winzige Dosis Fingerhut. Dann legte sie ihre Hände auf Mechthilds Körper: eine genau übers Herz, die andere in gleicher Höhe auf ihren Rücken. Sie konzentrierte all ihre Gedanken auf das Schlagen des müde gewordenen Herzens zwischen ihren Händen. Ihr war, als könnte sie die kleinen Unregelmäßigkeiten spüren, dann das Prickeln des Kraftstromes, der zwischen ihren Handflächen floss.
So stand sie schweigend eine Weile, bis sie schließlich die Hände von Mechthilds Körper löste. Fassungslos sah die Köchin sie an, dann schlug sie hastig ein Kreuz.
»Sie kommen, sie kommen!«, war auf einmal von draußen eine aufgeregte helle Stimme zu hören.
Marthe lief hinaus.
Statt aufzuspringen, sah Mechthild ihr immer noch verwundert nach. »Ich habe es geahnt …«, murmelte sie schließlich, und ein andächtiges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Der Burghof füllte sich schnell mit Menschen. Wie verabredet, ließ Reinhard erneut das Eisen schlagen, um die Dorfbewohner von der bevorstehenden Ankunft der Bergleute
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