Die Entscheidung der Hebamme
zuvorgekommen. Aber vielleicht war es auch besser, nicht sein durchbohrtes Herz und seine tödlichen Wunden zu sehen, sondern ihn so in Erinnerung zu behalten, wie sie ihn tags zuvor noch einmal gewaschen hatte – in Vorbereitung auf das, was sie beide geahnt und erwartet hatten.
Johanna und Marie kamen mit dem von Pfeilen durchbohrten Obergewand zurück und halfen ihr, es ihm über sein Leichenkleid zu ziehen. Dann faltete sie erneut die Hände ihres Geliebten so über seiner Brust, dass sie sein Schwert hielten. Das Schwert würde sie für Thomas aufbewahren, so war es der Wille seines Vaters. Aber bis zum Begräbnis sollte es in Christians Händen bleiben.
Dann kniete sie erneut an seiner Seite nieder, verschränkte die Arme und legte ihren Kopf auf Christians Schulter.
Nur ein Satz, ein Vorwurf pulste immer wieder durch ihren Kopf: Warum hast du mich verlassen, Geliebter?
Sie wusste nicht, wie sie nun weiterleben sollte.
Es konnte eine Ewigkeit vergangen sein oder auch nur ein Wimpernschlag, als Lukas an ihre Seite trat.
»Es ist alles bereit«, sagte er, wartete einen Moment des Schweigens und half ihr dann auf.
Jakob, Reinhard und Raimund kamen herein und betteten Christians Leichnam auf die Bahre, die sie mitgebracht hatten.
Lukas trat als Vierter hinzu. Gemeinsam hoben sie die Bahre mit dem Toten an und trugen ihn hinaus.
Marthe und Clara, die an ihre Seite getreten war, folgten ihnen, danach Thomas und Daniel, Kuno und Johanna, Bertram und Marie.
Solange die kleine Gruppe den Burghof durchquerte, blieb sie für sich allein.
Doch kaum hatten sie das Tor passiert, strömten von allen Seiten Christiansdorfer herbei, um sich der Prozession anzuschließen. Mit finsteren Mienen oder verweinten Gesichtern folgten sie ihrem toten Anführer: die ersten Siedler wie Jonas und Emma, viele der Bergleute mit ihren Familien, die Christian selbst dafür gewonnen hatte, in die Mark Meißen zu ziehen, mit dem Bergmeister an der Spitze, die jungen Burschen von Peters Bande, etliche Händler und Handwerker. Auch die angesehenen Männer der kleinen jüdischen Gemeinde schlossen sich dem Trauerzug an. Den Schluss des immer größer werdenden Zuges bildeten Walther und seine Getreuen.
Bei alldem fiel kein einziges Wort. Christians Freunde hatten dafür gesorgt, dass Albrechts Befehl: »In aller Stille!« wörtlich befolgt wurde, wenn auch sicher nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.
Vor der Dorflinde kam der Zug zum Stehen, die Ritter trugen die Bahre mit Christians Leichnam in die steinerne Kapelle und setzten sie vor dem Altar ab. Hilbert, der sie dort erwartete und nun ebenfalls wieder hier Quartier nehmen würde, schließlich gehörte er zu Christians Haushalt und nicht zur Burgmannschaft, entzündete eine Kerze und sprach ein langes, feierliches Gebet.
Die Männer waren links und rechts des Toten niedergekniet und beteten mit ihm, ebenso Marthe und ihre Kinder.
Dann traten sie beiseite, und einer nach dem anderen zogen die Dorfbewohner vorbei, um noch einmal einen letzten Blick auf ihren einstigen Herrn zu werfen und für sein Seelenheil zu beten. Einige hatten aus späten Wiesenblumen oder Blättern Girlanden geflochten und legten sie ihm zu Füßen.
Vom Weinen gerötete Gesichter, fassungslose Blicke, inbrünstig gesprochene Gebete und leises Schluchzen erfüllten die Kapelle, bis die Prozession vorbei war.
Marthe bemerkte, dass viele der Vorbeiziehenden die Blicke nicht von den blutigen Löchern abwenden konnten, die die todbringenden Pfeile in Christians Bliaut gerissen hatten. Selbst wer auf dem Burghof nicht dabei gewesen war, sah nun, was alle nach ihrem Willen sehen sollten.
Albrecht sollte es noch bereuen, den Befehl zu Christians Ermordung gegeben zu haben! Lukas und seine Freunde hatten die Männer getötet, die die Pfeile abgeschossen hatten. Doch derjenige, der dahintersteckte, sollte nicht davonkommen. Selbst wenn es zehn oder zwanzig Jahre dauern sollte – sie würde Christian rächen.
Längst war das Dunkel der Nacht hereingebrochen. Die vier Ritter, die die Bahre getragen hatten, erklärten sich bereit, die erste Totenwache zu übernehmen.
Marthe wollte sich ihnen anschließen, doch da griff Johanna ein und tat, was Marthe sonst auch mit jeder anderen Frau getan hätte, die gerade ihren geliebten Mann verloren hatte. Sie führte sie und Clara sanft hinaus und bestand darauf, dass sie einen starken Schlaftrunk zu sich nahmen.
»Ihr werdet beide noch alle Kraft brauchen«,
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